Totenmontag: 7. Fall mit Tempe Brennan
noch einmal.
Vielleicht. Aber da war noch etwas anderes.
Mit Atemwolken vor dem Mund, die Krägen gegen die Kälte hochgeschlagen, bewegten Ryan und ich uns vorsichtig über den unebenen Weg.
Zehn Meter von der de Sébastopol entfernt bog der Pfad scharf nach links ab, und plötzlich sahen wir ein verwittertes Backsteinhaus vor uns. Wir blieben beide stehen und lasen die verrosteten Ziffern über der Tür.
»Bingo«, sagte Ryan.
Der Eingang hatte einen Vorbau, die Tür selbst war zwar alt und verwittert, aber reich verziert. Die Fenster waren so gut wie undurchsichtig, einige schwarz, andere weiß vor Frost und angewehtem Schnee.
Tote Ranken zogen sich wie Spinnweben über Dach und Außenmauern, und ein hölzernes Fensterbrett hing vom Rahmen. Die Fichten waren hier dichter und tauchten das Haus und seinen kleinen Garten in noch tieferen Schatten.
Unwillkürlich stellten sich mir die Nackenhaare auf.
Ich atmete tief durch, um mich einigermaßen zu beruhigen.
Ryan ging zur Tür. Ich folgte.
Die Klingel bestand aus beschlagenem Messing und war eins dieser altmodischen Modelle, bei denen man den Knopf im Uhrzeigersinn drehen musste, um im Haus einen Ton zu erzeugen. Ryan tat es.
Tief drinnen schrillte es.
Ryan wartete eine ganze Minute und klingelte dann noch einmal.
Sekunden später klackten Schlösser, dann ging die Tür zehn Zentimeter weit auf.
Ryan hielt seine Marke in den Spalt.
»Mr. Menard?«, fragte er auf Englisch.
Der Spalt wurde nicht breiter. Ich konnte die Person, die hindurchspähte, nicht erkennen.
»Stephen Menard?«, wiederholte Ryan.
» Que voulez-vous? « Was wollen Sie? Ein starker Akzent. Amerikanisch.
»Polizei, Mr. Menard. Wir würden gerne mit Ihnen sprechen«, erwiderte Ryan auf Englisch.
» Laissez-moi tranquille. « Lassen Sie mich in Frieden.
Die Tür bewegte sich wieder auf den Rahmen zu. Blitzschnell stemmte Ryan die Handfläche dagegen.
»Sind Sie Stephen Menard?«
» Je m’appelle Stéphane Ménard. « Menard sprach den Namen französisch aus. » Qui êtes-vous? « Wer sind Sie?
»Detective Andrew Ryan.« Ryan deutete auf mich. »Dr. Temperance Brennan. Wir müssen mit Ihnen sprechen.«
» Allez-vous-en. « Die Stimme klang trocken und beinahe zart. Ihren Besitzer konnte ich noch immer nicht erkennen.
»Wir gehen nicht weg, Mr. Menard. Wenn Sie kooperieren, werden unsere Fragen nur ein paar Minuten Ihrer Zeit beanspruchen.«
Menard erwiderte nichts.
»Wir können das natürlich auch auf dem Revier erledigen.«
Ryans Stimme war gehärteter Stahl.
» Tabernac! «
Die Tür ging zu. Eine Kette klirrte, dann wurde die Tür wieder geöffnet.
Ryan trat ein, und ich folgte. Der Boden war mit Linoleum ausgelegt, die Wände für einen fensterlosen Raum viel zu dunkel gestrichen. Die Luft roch nach Mottenkugeln, alter Tapete und moderigem Stoff.
Die winzige Diele wurde nur von einer kleinen Porzellanlampe erhellt. Menard stand im Schatten der Tür, die eine Hand am Knauf, die andere drückte einen Brieföffner aus Messing an die Brust.
Als Menard die Tür schloss und sich uns zuwandte, konnte ich ihn zum ersten Mal richtig erkennen.
Stephen Menard musste mindestens eins neunzig groß sein. Mit seinem sommersprossigen Gesicht und dem kahlen, krötenförmigen Schädel war er einer der seltsamsten Männer, die ich je gesehen habe. Er hätte ein vorzeitig gealterter Vierziger oder ein gut erhaltener Sechziger sein können.
» Que voulez-vous? « fragte Menard noch einmal. Was wollen Sie?
»Dürfen wir uns setzen?« Ryan zog den Reißverschluss seiner Jacke auf.
Ein Achselzucken. » N’importe. « Wie Sie wollen.
Menard führte uns in ein Wohnzimmer, das so dämmrig war wie die Diele. Schwere rote Vorhänge, Mahagoni-Sekretär, Couch- und Beistelltische. Dunkle, blumengemusterte Tapete. Schwere, dunkelrote Sitzgarnitur.
Menard legte den Brieföffner auf den Sekretär, ließ sich aufs Sofa fallen und schlug die Beine übereinander. Ich zog meine Jacke aus und setzte mich in den Sessel rechts von ihm.
Ryan ging durch das Zimmer und schaltete den Deckenlüster und zwei Stehlampen aus Messing und Kristall links und rechts der Couch ein. Die Helligkeit erlaubte es uns, den Hausherrn besser einzuschätzen.
Stephen Menard war nicht nur kahl, er war vollkommen haarlos. Keine Barthaare. Keine Wimpern. Keine Körper- oder Kopfbehaarung. Diese Eigentümlichkeit ließ ihn glatt und merkwürdig blass aussehen. Ich fragte mich, ob Menards Haarmangel genetisch bedingt
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