Totenpech
Gartenstuhl. Sie
überlegte, ob sie ins Restaurant gehen und Hallo sagen sollte, als wäre es die
normalste Situation der Welt. Vielleicht war es nur eine Kollegin von Sam. Eine
Kollegin? Eine hübsche blonde Kollegin? Trug man im Dienst lange Ohrringe,
einen roten Lippenstift und ein enges, kurzes Kostüm? Die Sonne schien nicht,
warum hatte die Frau eine Sonnenbrille getragen? War es eine Art Tarnung, damit
man ihr das schlechte Gewissen nicht an den Augen ablesen konnte, das sie zweifelsohne
haben musste, wenn sie einen bereits vergebenen Mann verführte? Oder hatte Sam
ihr erzählt, dass er Single war?
Lina blieb sitzen und beobachtete das Pärchen, das sich gerade mit
Rotwein zuprostete. Irgendwie schienen sie vertraut miteinander zu sein, aber
irgendwie auch nicht.
Auf jeden Fall schien Sam gesprächiger und aufmerksamer zu sein, als
er es in letzter Zeit bei ihr gewesen war. Ja, es war ihm geradezu
schwergefallen, einen vollständigen Satz zu formulieren. Oder bildete sie sich
das jetzt nur ein, weil es zu ihrer Verletztheit passte?
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sodass das Paar hinter der
Glasscheibe wie eine Fata Morgana zu flimmern begann. Langsam erhob sie sich,
legte Geld für ihre noch halb volle Apfelschorle auf den Tisch und verlieà den
Garten des Restaurants. Eine Liebe, die so spannend angefangen, die ihr neue
Lebensenergie und Freude geschenkt, die sie getragen, umsorgt, geführt hatte,
endete so abrupt mit einer tiefen Trauer des Verlustes. Aber vielleicht war es
gar nicht so abrupt. Man übersieht immer gerne, wenn dieser schleichende
Prozess des Abbaus einsetzt, verdrängt ihn tagtäglich, und erst wenn das Ende
erreicht ist, steht man davor wie ein Verurteilter, der nach langer
Gefangenschaft die Todesspritze gesetzt bekommt. Man ist überrascht und doch
irgendwie nicht.
Lina fühlte sich plötzlich schwindelig und orientierungslos.
Sam und Nina dagegen waren sich, ohne ein Wort darüber zu verlieren,
schnell einig über den weiteren Verlauf des Abends. Sie wollten sich.
Der Wein, der sich mit ihrem Blut vermischt hatte, nahm ihnen den
letzten Zweifel und die letzten Hemmungen. Sie fuhren zu Sam nach Hause und
trieben es unter der Dusche, auf dem Küchentisch, auf dem FuÃboden im
Wohnzimmer und im Flur. Wild und leidenschaftlich lieÃen sie sich gehen,
genossen den unbedachten Moment der Verführung, ohne an jemand anderen zu
denken. Nina nicht an ihren Ehemann, Sam nicht an Lina.
Hinterher zog sich Nina an, legte neuen Lippenstift auf und verlieÃ
Sams Wohnung. Es gab keine Abschiedsszene, kein Wort wurde darüber verloren, ob
und wann sie sich wiedersehen würden, denn beide wussten, dass diese Kostprobe
eine einmalige gewesen war. Ein Schluck von einem süÃen Wein, von dem man
wusste, dass einem die ganze Flasche nur Kopfschmerzen bereiten würde, und den
man besser stehen lieÃ.
Als Nina gegen acht Uhr abends Sam verlieÃ, ging dieser eine Weile
ruhelos in der Wohnung auf und ab. Plötzlich überkam ihn ein schlechtes
Gewissen, und als er die Nachrichten auf seinem blinkenden Anrufbeantworter
abhörte, wurde ihm übel.
Hi Sammy, würde dich gerne sehen, habe Sehnsucht nach dir. Warte bei
unserem Italiener auf dich.
Die Nachricht war von 14:45Â Uhr. Unserem
Italiener. Wie oft war er dort mit Lina gewesen! Er war ein Vollidiot.
Sie muss ihn und Nina gesehen haben. Wann war er mit Nina dort angekommen? Er
versuchte sich zu erinnern. Es muss drei, halb vier gewesen sein. Okay,
Schadensbegrenzung, sagte er zu sich selbst. Punkt eins, Lina hat ihn dort mit
Nina gesehen. Punkt zwei, was bedeutete das? Nichts. Eine Kollegin? Das würde
sie nicht glauben. Gut, eine alte Bekannte, die Eheprobleme hatte ⦠Nein, noch
besser eine alte Exfreundin mit ganz üblen Problemen ⦠Die Geschichte dazu
würde er sich später ausdenken. Ja, das war glaubwürdiger, redete sich Sam ein.
Er hat sie noch ins Hotel gebracht und war dann nach Hause gefahren. Es war
nichts passiert. So war es.
Sam entspannte sich gerade, als ihm einfiel, dass Lina vielleicht
beobachtet hatte, wie er mit Nina zu sich nach Hause gegangen war. Sie hatte
ihre Schlüssel von zu Hause vergessen und brauchte ein Bett für die Nacht?
Nein, Unsinn, sie wohnte ja nicht in München ⦠Hotel, Sam, du hast sie ins
Hotel gefahren. Bleib dabei. Aber warum wart ihr bei dir zu Hause, stellte er
sich die Frage, wie Lina sie
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