Totenpfad
Und diese Briefe haben mir verraten, wo wir Scarlet finden werden.»
«Unsinn», sagt Erik. «Du hast die Fakten einfach so verdreht, bis sie zu deiner Theorie gepasst haben. So machen das alle Akademiker.»
«Bist du etwa kein Akademiker?»
«Ich?» Erik lächelt. «Nein. Ich bin ein Geschichtenerzähler. Ein Rätselspinner.»
Und Ruth wird mit einem Mal klar, dass er tatsächlich verrückt ist.
Langsam bewegt sie sich zur Tür. Ihre Hand berührt bereits die Klinke. Da lässt Flint, ergriffen von der plötzlichen Angst, in seinem Katzenkorb zurückgelassen zu werden, ein schauerliches Jaulen hören. Erik zuckt zusammen und stürzt auf Ruth zu. Sie weiß nicht, was er vorhat, doch ein Blick in seine Augen genügt, und die Entscheidung ist gefallen. Sie reißt die Tür auf und stürzt hinaus in die Nacht.
Der Wind ist so stark, dass sie sich kaum auf den Beinen halten kann. Er kommt direkt vom Meer heran, braust über das Moor und drückt auf seinem Weg alles zu Boden. Regen peitscht ihr ins Gesicht, wie um sie zu Erik zurückzutreiben, doch Ruth stolpert weiter. Schließlich steht sie vor ihrem Wagen, ihrem rostigen, rüstigen Renault, und rüttelt wie besessen an der Tür.
«Suchst du vielleicht den hier?» Als sie sich umdreht, steht Erik hinter ihr, den Autoschlüssel in der Hand. Er lächelt immer noch. Mit seinem weißen, regennassen Haar sieht er aus wie ein Zauberer – kein freundlicher Harry-Potter-Zauberer allerdings, sondern eine Kreatur aus Wind und Regen. Ein Elementargeist.
Ruth rennt. Sie läuft über die New Road, springt über den Straßengraben, wo bereits die Wassermassen tosen, und läuft ins Dunkel hinein, auf das Moor zu.
«Ruth!» Erik ist hinter ihr. Er ist ebenfalls über den Graben gesprungen, sie hört, wie er über das harte Gras und die niedrigen Büsche stolpert. Auch Ruth stolpert, landet unsanft auf dem matschigen Boden und schürft sich die Handflächen an umherliegenden Steinen auf. Trotzdem läuft sie immer weiter, keuchend und außer Atem, zwischen den verkümmerten Bäumen hindurch, ohne zu wissen, wohin sie eigentlich will. Sie weiß nur, dass sie Erikentkommen muss. Er wird sie töten, davon ist sie überzeugt. Er wird sie töten, so wie er die beiden kleinen Mädchen getötet hat. Ganz ohne Grund. Weil er einfach verrückt ist.
Sie hört ihn hinter sich. Trotz seines Alters ist er gut in Form, sehr viel besser als sie. Doch die Angst treibt sie vorwärts. Als sie in ein flaches Rinnsal tritt, weiß sie, dass sie nicht mehr weit vom Watt entfernt sein kann. Der Sturm brüllt immer lauter, der Regen zersticht ihr das Gesicht. Sie bleibt stehen. Wo ist Erik? Mit einem Mal hört sie nur noch den Wind.
Sie lässt sich erschöpft zu Boden sinken. Der Untergrund ist weich, Schilfrohre streifen ihr Gesicht. Wo ist das Meer? Sie darf auf keinen Fall aufs Watt hinausgeraten, sonst ist es aus mit ihr. Wie sagte David? Die Flut ist schneller als ein galoppierendes Pferd. Man kann sich ohne weiteres einbilden, im Lärmen des Windes wild galoppierende Hufe zu hören. Wie weiße Pferde jagen die Wellen über das Sumpfland. Ruth kauert im Schilf und versucht, sich wieder halbwegs zu besinnen. Sie muss Nelson anrufen, Hilfe anfordern. Doch als sie nach ihrem Handy tastet, fällt ihr ein, dass sie es schon in den Koffer gesteckt hat. Der Wind brüllt ihr in den Ohren, und dahinter hört sie ein anderes, weitaus bedrohlicheres Geräusch. Ein erbarmungsloses Brausen, das immer mehr anschwillt.
Sie hat sich auf dem Salzmoor verirrt, und die Flut kommt heran.
27
Nelsons Stimmung ist düster, als er zum Revier zurückfährt. Die angeblichen «neueingegangenen Hinweise» waren am Ende natürlich nur bloßer Bullshit. In einem Pub in King’s Lynn war ein Mann gesichtet worden, dessen Beschreibung auf Erik Anderssen passte. Doch als Nelson dort eintraf, stellte sich heraus, dass in dem Pub ein Folk-Abend stattfand – und so ziemlich jeder anwesende Mann aussah wie Erik Anderssen, grauer Pferdeschwanz und blasierte Miene inbegriffen.
Während er im Feierabendverkehr dahinschleicht, starrt Nelson finster in den Regen hinaus. Schließlich denkt er: «Ach, was soll’s?», und stellt sein Martinshorn aufs Autodach. Schon teilt sich das Verkehrsgewühl vor ihm, was ihm jedes Mal aufs Neue eine Genugtuung ist, und er kann ungehindert bis zum Revier durchbrausen.
Wenn bloß mit Ruth alles in Ordnung ist. Aber sie wird inzwischen ja schon wohlbehalten auf dem Weg nach London sein. Außerdem
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