Totenpfad
ich denn da von einer Entdeckung?»
«Ach, Erik!», ruft Ruth überschwänglich, während sie ihren Dielenteppich nasstropft. «Ich glaube, ich habe deinen Dammweg gefunden.»
Es ist dunkel, aber das ist sie schon gewöhnt. Sie streckt die Hand aus, um zu sehen, ob sie die Wand berühren kann, und spürt nur kalten Stein. Keine Tür. In der Decke ist eine Klappe, aber wann die aufgehen wird, weiß sie nie im Voraus. Manchmal ist es auch schlimmer, wenn sie aufgeht. Schreien und Weinen hilft nichts; das hat sie schon so oft gemacht, und es hat nie etwas geholfen. Manchmal schreit sie trotzdem gern, um ihre eigene Stimme zu hören. Sie klingt irgendwie wie die Stimme von jemand Fremdem. Manchmal ist es fast so, als würde ihr diese andere Stimme Gesellschaft leisten. Sie führen lange Gespräche, flüstern im Dunkeln miteinander.
«Hab keine Angst.»
«Es wird alles wieder gut.»
«Es gibt immer ein Licht am Ende des Tunnels.»
Lauter Worte, von denen sie nicht mehr weiß, wo sie sie gehört hat, die sich ihr aber dennoch ins Gedächtnis geprägt haben. Wer hat ihr früher einmal erzählt, dass es immer ein Licht am Ende des Tunnels gibt? Das weiß sie nicht. Sie weiß nur, dass die Worte ihr manchmal guttun, als würde sie in eine warme Decke gehüllt. Sie hat eine Decke, falls es kalt wird, trotzdem zittert sie auch dann noch so sehr, dass ihr morgens beim Aufwachen der ganze Körper weh tut. Manchmal ist es wärmer, dann kommt ein bisschen Licht durch den Spalt in der Deckenklappe. Einmal hat er auch das Fenster in der Decke offen gelassen. Sonst ist es immer nur nachts offen, wenn der Himmel schwarz ist, doch dieses eine Mal war er so hell und blau, dass es ihr in den Augen weh tat. Die Gitter vor dem Fenster sahen aus wie eine kleine gelbe
Leiter. Manchmal träumt sie, dass sie diese Leiter hinaufklettert und entkommt … Wohin? Das weiß sie nicht. Sie denkt an die Sonne im Gesicht, an einen Garten voller Stimmen, und es duftet nach Essen, und es gibt einen kühlen Wasserfall. Manchmal geht sie durch das Wasser wie durch einen Vorhang. Ein Vorhang. Aber wo? Ein Perlenvorhang, durch den man lachend hindurchläuft, und auf der anderen Seite warten wieder das warme Licht, die Stimmen und Menschen, die sie fest in die Arme schließen, so fest … so fest, als wollten sie sie nie mehr loslassen.
Und dann denkt sie wieder, dass da gar nichts ist, absolut nichts auf der anderen Seite dieser Wände. Nur noch mehr Wände und Eisenstäbe und kalter, kalter Betonboden.
4
Ruth beendet den Weihnachtsbesuch bei ihren Eltern so bald, wie es der Anstand nur irgendwie erlaubt. Phil macht eine Silvesterparty, und obwohl sie nicht im Traum daran denkt, sich dort blicken zu lassen, sagt sie ihren Eltern, dass es ihre Pflicht sei hinzugehen. «Es wäre sonst nicht gut für meine Karriere. Er ist immerhin der Lehrstuhlinhaber.» Das leuchtet den beiden ein. Sie begreifen, dass Ruth auf eine Party muss, um beruflich voranzukommen – sie könnten es nur nicht verstehen, wenn sie dorthin wollte, um sich zu amüsieren.
Und so fährt Ruth am 29. Dezember über die M11 zurück nach Norfolk. Es ist Vormittag, der Frost hat sich verzogen, und so fährt sie schnell und singt gut gelaunt zu der neuen Bruce-Springsteen-CD, die sie sich selbst zu Weihnachten geschenkt hat. Ihr Bruder Simon bescheinigt ihr gern den Musikgeschmack eines sechzehnjährigen Jungen – «und zwar eines Sechzehnjährigen mit Geschmacksverirrung». Doch Ruth stört sich nicht daran. Sie hat nun mal eine Schwäche für Bruce und Rod und Bryan, all diese alternden Rocker mit ihren krächzenden Stimmen, ihren ausgewaschenen Jeans und ihren standhaft jugendlichen Frisuren. Sie mag die Art, wie sie von Liebe und Verlust singen und von dem finsteren, seelenlosen Herzen Amerikas, und sie mag es auch, dass sich alles immer gleich anhört: dröhnende Gitarren über einem bombastischen Musikteppich, der den Text irgendwann in einem letzten, lärmenden Crescendo ertränkt.
Lauthals singend biegt sie auf die A11 nach Newmarket ab. Weihnachten war im Grunde gar nicht so schlecht. Ihre Eltern haben ihr nicht übermäßig damit in den Ohren gelegen, dass sie nicht in die Kirche geht und nicht verheiratet ist. Auch Simon hat nicht über das normale Maß hinaus genervt, und ihre Neffen sind mit acht und sechs in dem spannenden Alter, wo man mit ihnen in den Park gehen und «Jäger aus der Jungsteinzeit» spielen kann. Die Kinder sind ganz begeistert von Ruth,
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