Totenpfad
ihm gesprochen. Sie hat ihm die Ergebnisse der 14 C-Datierung geschickt, derzufolge die Tote ein Mädchen im vorpubertären Alter war, das etwa 650 vor Christus gestorben ist. Danach hat sie nichts von ihm gehört, das aber im Grunde auch nicht erwartet. Einmal, kurz vor Weihnachten, als sie in einem Buchladen in Norwich halbherzig nach Geschenken suchte, hat sie ihn draußen vorbeigehen sehen. Mit missmutiger Miene und bepackt mit Einkaufstüten trottete er hinter einer blonden Frau im Designer-Trainingsanzug und zwei mürrischen Teenagern her. Ruth versteckte sich hinter einem Ständer mit Kalendernund beobachtete die vier von dort aus. In diesem typisch weiblichen Umfeld aus Einkaufstaschen und Weihnachtsbeleuchtung wirkte Nelson noch machohafter als ohnehin schon und völlig fehl am Platz. Die Frau – vermutlich seine Ehefrau – drehte sich gerade mit wippendem Haar und gewinnendem Lächeln zu ihm um. Nelson sagte etwas und blickte finster dazu, und die beiden Mädchen lachten. Wahrscheinlich, dachte Ruth, verbünden sie sich zu Hause ständig gegen ihn, schließen ihn aus ihren Frauengesprächen über Jungs und Wimperntusche aus. Doch dann trat Nelson neben seine Frau und flüsterte ihr etwas zu, worauf sie ungekünstelt und herzlich lachte, und er verwuschelte seiner älteren Tochter die sorgfältig gestylte Frisur und duckte sich grinsend vor ihr weg, als sie empört nach ihm schlug, und einen Moment lang wirkten sie alle vereint: eine glückliche, fröhliche, wenn auch leicht gestresste Familie beim Weihnachtseinkauf. Ruth wandte sich wieder den Kalendern zu und sah in höhnisch grinsende, gelbe Simpsons-Gesichter. Sie konnte Weihnachten sowieso nicht ausstehen.
Aber warum ruft Harry Nelson sie jetzt plötzlich zu Hause an? Was kann so wichtig sein, dass er sie unbedingt auf der Stelle sprechen will? Und warum ist er so arrogant, nicht einmal seine Telefonnummer zu hinterlassen? Verärgert, vor allem aber schrecklich neugierig, sucht Ruth im Telefonbuch nach der Nummer der Polizei Norfolk. Die natürlich nicht die richtige ist. «Da müssen Sie bei der Kriminalpolizei anrufen», sagt die Stimme am anderen Ende mit unverhohlener Ehrfurcht. Doch schließlich bekommt Ruth irgendeinen Handlanger an die Strippe, der sie merklich widerwillig zu DCI Nelson durchstellt.
«Nelson», blafft der gereizt in den Hörer. Seine Stimme klingt noch sehr viel nordenglischer und unfreundlicher, als Ruth sie in Erinnerung hat.
«Hier ist Ruth Galloway von der Universität. Sie hatten mich angerufen.»
«Ja, stimmt. Das ist aber schon ein Weilchen her.»
«Ich war verreist», sagt Ruth. Sie wird den Teufel tun und sich dafür entschuldigen.
«Es gibt da ein paar neue Entwicklungen. Sie müssten aufs Revier kommen.»
Ruth ist irritiert. Natürlich möchte sie wissen, was für neue Entwicklungen es gegeben hat, doch Nelsons Bitte klingt ihr zu sehr nach Befehl. Außerdem macht es ihr ein wenig Angst, aufs Revier kommen zu müssen. Das klingt so, als müsste sie der Polizei bei den Ermittlungen helfen.
«Ich habe nicht viel Zeit …», setzt sie an.
«Ich schicke Ihnen einen Wagen», unterbricht Nelson sie. «Morgen früh, okay?»
Die Erwiderung liegt Ruth schon auf der Zunge: Nein, morgen früh ist keineswegs okay, ich muss nämlich zu dieser unglaublich wichtigen Konferenz nach Hawaii und bin überhaupt viel zu beschäftigt, um einfach alles stehen und liegen zu lassen, nur weil Sie mich herumkommandieren. Stattdessen aber sagt sie: «Ich denke, ich kann ein, zwei Stunden für Sie erübrigen.»
«Gut», sagt Nelson. Dann fügt er noch ein «Danke» hinzu. Es klingt nicht so, als verwendete er dieses Wort allzu häufig.
5
Pünktlich um neun steht ein Streifenwagen vor Ruths Tür. Sie hat sich schon gedacht, dass der Wagen so früh da sein wird (Nelson scheint ihr der klassische Frühaufsteher zu sein), und ist bereits gestiefelt und gespornt. Auf dem Weg zum Wagen sieht sie, wie die Wochenendfahrerin –Sara? Sylvie? Susanna? – verstohlen aus dem Fenster späht. Ruth winkt und lächelt ihr fröhlich zu. Wahrscheinlich denkt sie, man würde Ruth verhaften. Schuldig im Sinne der Anklage, allein zu leben und mehr als sechzig Kilo zu wiegen.
Sie wird bis ins Zentrum von King’s Lynn gefahren. Das Polizeirevier befindet sich in einem freistehenden viktorianischen Haus, das im Grunde immer noch wie ein Einfamilienhaus wirkt. Der jetzige Wartebereich war früher offenbar das Wohnzimmer, und eigentlich stellt man sich
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