Totenpfad
weil sie ihnen Geschichten von Höhlenmenschen und Dinosauriern erzählt und sie nicht ständig ermahnt, sich das Gesicht zu waschen. «Du kannst richtig gut mit Kindern», hat ihre Schwägerin Cathy vorwurfsvoll zu ihr gesagt. «Wirklich schade …» Und obwohl sie die Antwort im Grunde schon kannte, hat Ruth sie doch gefragt: «Was ist denn daran schade?» – «Dass du keine eigenen hast», kam es zurück. «Aber langsam, fürchte ich …»
Langsam habe ich mich schon mit meinem Dasein als alte Jungfer und Patentante abgefunden, denkt Ruth, während sie geschickt einen völlig überladenen Minivan überholt. Und damit, dass ich wohl irgendwann durchdrehen und meinen Katzen kleine Pullover aus meinen eigenen Haaren stricken werde. Sie ist fast vierzig, und obwohl es keineswegs ausgeschlossen ist, dass sie vielleicht doch noch ein Kind bekommt, fällt ihr in letzter Zeit auf, dass die Leute sie immer seltener darauf ansprechen. Ihr selbst ist das nur recht. Als sie noch mit Peter zusammen war, hat sie nur eines mehr genervt als die ständigen Anspielungen auf mögliche «Hochzeitsglocken», und das war die Frage nach ihrem «Kinderwunsch». Nachdem sie sich die Katzen zugelegt hatte, hat ihre Mutter sie sogar ganz offen gefragt, ob das jetzt ein «Babyersatz» sein solle. «Nein», hat Ruth todernst erwidert. «Das sind Katzen. Ich würde ein Baby eher als Katzenersatz sehen.»
Sie erreicht das Salzmoor am späten Nachmittag, als die Wintersonne schon tief über dem Schilf steht. Die Flut hat eingesetzt, die Möwen stoßen schrille, aufgeregte Schreie aus. Ruth steigt aus dem Wagen und atmet den wunderbaren Duft des Meeres ein, so durchdringend und geheimnisvoll. Sie ist froh, wieder zu Hause zu sein. Dann bemerkt sie das Automonstrum der Wochenendfahrer, das vor deren Häuschen parkt, und spürt einen Anflug von Unmut. Die werden doch nicht etwa für den Jahreswechsel hierbleiben wollen! Können sie nicht einfach in London bleiben, wie alle anderen auch, sich auf dem Trafalgar Square drängeln oder eine schicke kleine Party zu Hause machen? Was müssen sie ausgerechnet hierherfahren, um mal «ein bisschen rauszukommen»? Womöglich machen sie auch noch Feuerwerk und verschrecken sämtliche Vögel im Umkreis mehrerer Kilometer. Ruth lächelt grimmig, als sie sich ausmalt, was David wohl dazu sagen würde.
Als sie ihr Häuschen betritt, stürzt Flint lauthals maunzend auf sie zu. Sparky bleibt auf dem Sofa liegen und würdigt sie keines Blickes. Über Weihnachten hat Ruths Freundin Shona die Katzen gefüttert, und so findet Ruth jetzt einen Willkommens-Blumenstrauß auf dem Tisch und Milch und Weißwein im Kühlschrank. Sie ist wirklich ein Engel, denkt Ruth, während sie Teewasser aufsetzt.
Shona unterrichtet Englisch an der Universität und ist Ruths beste Freundin hier in Norfolk. Wie Peter hat auch sie sich vor zehn Jahren freiwillig als Helferin bei der Henge-Grabung gemeldet. Als schwärmerische Irin mit wilder Präraffaeliten-Mähne schlug sie sich damals auf die Seite der Druiden und nahm einmal sogar an einer abendlichen Mahnwache teil, wo sie so lange singend und deklamierend mit den anderen auf dem Sand hockte, bis die Flut sie aufs Festland zurücktrieb und sie sich mit der Aussicht auf ein Guinness schließlich doch in den Pub lockenließ. So war Shona: Sie hatte zwar ihre esoterischen Prinzipien, doch meistens genügte ein guter Drink, um diese Prinzipien auszuhebeln. Inzwischen hat sie ein Verhältnis mit einem verheirateten Unidozenten, und hin und wieder steht sie abends unangekündigt bei Ruth vor der Tür, schluchzt und rauft sich die Haare und verkündet, alle Männer zu hassen, ins Kloster gehen oder lesbisch werden zu wollen oder besser noch beides. Dann trinkt sie ein Glas Wein und ist anschließend wieder bester Dinge, singt zu Bruce Springsteen und erklärt, Ruth sei ein «echter Schatz». Eigentlich ist Shona das Beste an dieser ganzen Universität.
Auf dem Anrufbeantworter sind vier Nachrichten. Der erste Anrufer hat sich verwählt, der zweite ist Phil, der sie noch einmal an die Party erinnert, der dritte Anruf stammt von ihrer Mutter, die wissen will, ob Ruth gut nach Hause gekommen ist, und der vierte … der vierte kommt gänzlich unerwartet.
«Hallo … äh … Ruth. Hier ist Harry Nelson von der Polizei Norfolk. Vielleicht könnten Sie mich mal zurückrufen? Danke.»
Harry Nelson. Seit dem Tag, als sie die Eisenzeitleiche gefunden haben, hat Ruth nicht mehr mit
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