Totenpfad
greift sie nach dem Aktenordner und schlägt ihn auf. Vor ihr liegt der Brief, sie nimmt ihn in die Hand. Allem Anschein nach wurde er auf einem gängigen Computer getippt und auf Standardpapier ausgedruckt, aber das wird die Polizei alles längst überprüft haben. Ruth braucht sich nur mit dem Inhalt zu befassen:
Lieber Detective Nelson,
alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen, eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen, eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln. Sie liegt dort, wo das Land an den Himmel grenzt, dort, wo die Wurzeln des erhabenen Baumes Yggdrasil bis ins Jenseits hinabragen. Alles Sterbliche ist wie das Gras. Und doch ist im Tod auch das Leben. Sie ist zum vollkommenen Opfer geworden. Blut auf Stein – Scharlachrot auf Weiß.
In Frieden.
Keine Unterschrift.
«Und?» Nelson sieht sie erwartungsvoll an.
«Nun ja, die ersten beiden Sätze stammen aus der Bibel. Aus dem Buch Kohelet, dem Prediger Salomo.» Ruth rutscht verlegen auf ihrem Stuhl herum. Ihr ist ein wenig unbehaglich zumute. Das passiert ihr immer, wenn von der Bibel die Rede ist.
«Und was soll das mit dem Baum?»
«In der nordischen Mythologie gibt es einen Baum namens Yggdrasil, dessen Wurzeln sich angeblich von der Unterwelt bis in den Himmel erstrecken. Es ranken sich alle möglichen Legenden darum.» Während sie das sagt, sieht sie Erik vor sich, diesen großen nordischen Geschichtenerzähler, der abends am Lagerfeuer von Odin und Thor fabulierte, während die Flammen im Halbdunkel auf seinem Gesicht spielten, von der Burg Asgard, dem Sitz der Götter, und von Muspelheim, der Heimat der Feuerriesen.
«In dem Brief steht, die Wurzeln würden ins Jenseits
hinab
ragen.»
«Stimmt.» Das ist Ruth sofort aufgefallen, doch es erstaunt sie, dass Nelson es ebenfalls bemerkt hat. «Manche Theorien besagen, dass der Himmel im Glauben der Urmenschen unterhalb der Erde angesiedelt war und nicht darüber. Sagt Ihnen der Name Seahenge etwas?»
«Nein.»
«Das ist eine prähistorische Kultstätte, die in der Nähe von Holme-next-the-Sea entdeckt wurde, nicht weit vom Salzmoor. Ein hölzernes Henge-Monument, genau wie unseres hier, nur fand man in diesem Fall in der Mitte noch einen eingegrabenen Baum. Er war kopfüber vergraben: Die Wurzeln zeigten nach oben, die Zweige nach unten, ins Erdinnere.»
«Und Sie glauben, der Typ hier …» Nelson hält den Brief hoch. «… der hat davon gehört?»
«Nicht auszuschließen. Der Fund hat damals für einiges Aufsehen gesorgt. Haben Sie schon mal in Erwägung gezogen, dass es vielleicht gar kein Mann ist?»
«Wie?»
«Die Person, die die Briefe verfasst hat. Es könnte doch auch eine Frau sein.»
«Ja, schon möglich. Beim ersten Mal waren ein paar handschriftliche Briefe dabei. Unser Experte sagt, es ist eine Männerschrift, aber darauf kann man sich nie verlassen. Experten können sich schließlich auch irren. Oberste Regel der Polizeiarbeit.»
Ruth überlegt kurz, ob das wohl auch für sie gilt, dann fragt sie: «Können Sie mir etwas über das Kind sagen? Das Kind, das gerade verschwunden ist, meine ich.»
Nelson mustert sie erstaunt. «Das stand doch in sämtlichen Zeitungen, auch in den überregionalen. Es kam sogar bei
Crimewatch
. Wo zum Teufel waren Sie?»
Ruth schämt sich ein wenig. Sie liest so gut wie nie Zeitung und sieht auch selten fern, weil sie lieber Romaneliest und Radio hört. Letzteres versorgt sie normalerweise mit den wichtigsten Nachrichten, aber sie war ja bei ihren Eltern. Im Grunde, das wird ihr plötzlich erschreckend klar, ist sie sehr viel besser über die Vorgänge in der prähistorischen Welt informiert als über die in der heutigen.
Nelson seufzt und reibt sich die Bartstoppeln. Als er weiterspricht, ist sein Ton noch barscher als sonst. «Scarlet Henderson, vier Jahre alt. Sie ist beim Spielen aus dem Vorgarten ihres Elternhauses in Spenwell verschwunden.»
Spenwell ist ein kleines Dorf, keinen Kilometer von Ruths Haus entfernt. Die ganze Sache scheint ihr unangenehm nahe zu kommen.
«Scarlet?»
«Ja, genau. Scarlet, wie die Farbe. Scharlachrot auf Weiß. Blut auf Stein. Eine poetische Ader hat der Kerl ja, das muss man ihm lassen.»
Ruth bleibt still und denkt an Eriks Thesen zum Opferritus. Holz steht für Leben, Stein für Tod. Laut fragt sie:
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