Totenpfad
«Wann ist das passiert?»
«Ende November.» Ihre Blicke treffen sich. «Etwa eine Woche, nachdem wir Ihre alten Knochen gefunden haben. Fast auf den Tag genau zehn Jahre nach Lucy Downeys Verschwinden.»
«Und Sie glauben, die beiden Fälle hängen zusammen?»
Nelson zuckt die Achseln. «Ich darf natürlich nichts ausschließen, aber es gibt schon ein paar Ähnlichkeiten. Und dann auch noch dieser Brief.»
«Wann kam der?»
«Zwei Wochen, nachdem Scarlet verschwunden war. Wir hatten schon alles versucht, die ganze Umgebung durchkämmt, den Fluss trockengelegt, Gott und alle Welt befragt. Da ist aber nichts bei herausgekommen. Und dannder Brief. Das hat mich wieder auf Lucy Downey gebracht.»
«Aber daran dachten Sie doch sicher ohnehin schon.» Es ist eine ganz unschuldige Feststellung, doch Nelson wirft ihr einen scharfen Blick zu, als witterte er Kritik.
«Stimmt, ich habe daran gedacht.» Er klingt, als müsste er sich rechtfertigen. «Es gab ja durchaus Entsprechungen: ähnliches Alter, gleiche Jahreszeit. Aber es gibt natürlich auch Unterschiede. Lucy Downey wurde aus ihrem Elternhaus entführt. Furchtbare Sache. Man hat sie nachts aus dem Bett geholt. Die Kleine hier war allein draußen im Garten …»
In seiner Stimme liegt eine gewisse Missbilligung, was Ruth zu der Frage führt: «Was ist denn mit den Eltern? Sie sagten doch … dass manchmal die Eltern …»
«Hippie-Typen», brummt Nelson verächtlich. «Esoterikjünger. Schaffen sich fünf Kinder an und können dann nicht mal richtig auf sie aufpassen. Zwei Stunden hat es gedauert, bis sie gemerkt haben, dass Scarlet weg ist. Aber wir glauben trotzdem nicht, dass sie es waren. Nichts deutet auf Misshandlung hin. Der Vater war zur Tatzeit verreist, und die Mutter war auf irgendeinem Drogentrip und hat mit den Elfen geplaudert.»
«Kann ich auch die anderen Briefe sehen?», fragt Ruth. «Die Lucy-Downey-Briefe? Vielleicht steht da ja noch etwas drin über Yggdrasil, nordische Mythen und all das.»
Damit scheint Nelson schon gerechnet zu haben, denn er reicht ihr wortlos einen zweiten Ordner, der vor ihm auf dem Schreibtisch liegt. Ruth sieht, dass mindestens zehn Briefe darin abgeheftet sind.
Nelson scheint ihre Gedanken zu lesen. «Zwölf Stück», sagt er. «Der letzte kam vergangenes Jahr.»
«Dann hat er also nicht aufgegeben?»
«Nein.» Nelson schüttelt langsam den Kopf. «Nie.»
«Kann ich die Briefe mitnehmen und sie mir heute Abend in Ruhe ansehen?»
«Wenn Sie mir das hier quittieren.» Während Nelson in einer Schreibtischschublade nach dem entsprechenden Formular sucht, überrascht er sie mit der Frage: «Und die Knochen, die wir gefunden haben? Was ist daraus geworden?»
«Ich hatte Ihnen doch den Bericht geschickt …?»
Nelson reagiert mit einem Grunzen. «Lauter böhmische Dörfer für mich.»
«Nun, im Wesentlichen besagt er, dass es sich um die Leiche eines Mädchens handelt, vermutlich zwischen sechs und zehn Jahren, auf jeden Fall aber noch nicht in der Pubertät. Die Knochen sind etwa zweitausendsechshundert Jahre alt. Wir haben am Fundort gegraben und drei goldene Torques und ein paar Münzen gefunden.»
«Die hatten schon Münzen in der Eisenzeit?»
«Ja, das war die Anfangszeit des Münzsystems. Im Frühjahr, wenn das Wetter wieder besser ist, werden wir weitere Grabungen durchführen.» Sie hofft, dass sich Erik dafür freimachen kann.
«Glauben Sie, sie wurde ermordet?»
Ruth mustert Nelson, wie er da vorgebeugt an seinem abgenutzten Schreibtisch sitzt. Sie findet es merkwürdig, ihn von Mord sprechen zu hören, als wäre ihr totes Eisenzeitmädchen plötzlich Teil seiner Ermittlungen. Als hätte er vor, den Täter zur Verantwortung zu ziehen.
«Das kann man nicht sagen», gibt sie schließlich zu. «Seltsam ist vor allem, dass ihr der halbe Kopf rasiert wurde. Wir sind uns nicht sicher, was das genau bedeutet, aber es kann durchaus Teil einer rituellen Tötung gewesen sein. Sie hatte Zweige um Hand- und Fußgelenke, Weiden- und Haselnussruten. Offenbar hat man sie damit gefesselt.»
Nelson lächelt grimmig. «Ich würde sagen, die Beweislage ist eindeutig.»
Auf dem Weg nach draußen führt er Ruth durch einen Raum voller Menschen, die allesamt konzentriert arbeiten, übers Telefon gebeugt sitzen oder auf Computerbildschirme starren. An der Wand hängt eine grobe Orientierungsskizze mit lauter Pfeilen und hingekritzelten Bemerkungen und mittendrin das Foto eines kleinen Mädchens mit
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