Totenpfad
dunklen Locken und lachenden Augen.
«Ist sie das?» Ruth flüstert unwillkürlich.
«Ja, das ist Scarlet Henderson.»
Niemand im Raum sieht auch nur auf, als sie vorbeigehen. Vielleicht tun sie ja alle nur, als würden sie arbeiten, weil der Chef sie beobachtet, doch aus irgendeinem Grund glaubt Ruth das nicht. An der Tür dreht sie sich noch einmal um und blickt in Scarlet Hendersons lächelndes Gesicht.
Zu Hause schenkt sie sich ein Glas von Shonas Weißwein ein und legt den Aktenordner mit den Briefen vor sich auf den Tisch. Doch bevor sie sich ihm zuwendet, schaltet sie erst noch den Rechner ein und googelt den Namen Scarlet Henderson. Ein Suchtreffer nach dem anderen erscheint auf dem Bildschirm. Nelson hat völlig recht – wie kann sie das bloß verpasst haben? «So leiden Scarlets Eltern», krakeelt eine Schlagzeile aus dem
Daily Telegraph
. «Polizei ratlos im Fall Henderson», verkündet die
Times
etwas nüchterner. Ruth scrollt sich durch den Artikel: «Detective Chief Inspector Harry Nelson von der Polizeidienststelle Norfolk machte gestern keinen Hehl daraus, dass es im Fall der vermissten vierjährigen Scarlet Henderson keine neuen Spuren gebe. Berichte über ein in Great Yarmouth gesichtetes Kind, das Scarlets Beschreibung entsprach,wurden von der Polizei als nicht fahndungsdienlich eingestuft …»
Vom Rand der Seite schaut ihr Scarlet entgegen, deren Gesicht auf dem Schwarzweißfoto noch sehr viel einprägsamer wirkt. Ist es tatsächlich tot, dieses strahlende Kind mit den leuchtenden Augen? Am liebsten würde Ruth nicht weiter darüber nachdenken, doch sie weiß, dass sie früher oder später nicht darum herumkommen wird. Ohne recht zu wissen, wie ihr geschieht, ist sie plötzlich in die Sache involviert.
Um die Briefe nicht sofort lesen zu müssen, gibt Ruth den Namen «Lucy Downey» in die Suchmaschine ein. Diesmal sind es deutlich weniger Treffer. Lucy ist zu einer Zeit verschwunden, als das Internet noch nicht allgegenwärtig war. Trotzdem taucht ihr Name auf einigen Websites über vermisste Kinder auf, und im
Guardian
findet sich ein Artikel mit der Überschrift: «Zehn Jahre danach, und der Albtraum nimmt kein Ende». «Alice und Tom Downey», liest Ruth, «empfangen mich in ihrem gepflegten Haus in Norfolk. Die Bilder an den Wänden zeigen alle dieselbe fröhliche Fünfjährige. Vor zehn Jahren lag Lucy schlafend im Bett, genau hier, in diesem Haus, als ein Eindringling die Garagenmauer erklomm, das Fenster öffnete und das Kind entführte, ohne dass die Eltern etwas merkten …» Großer Gott. Ruth hört auf zu lesen. Was für eine entsetzliche Vorstellung, morgens die kleine Tochter wecken zu wollen und festzustellen, dass sie verschwunden ist. Unter das Bett zu schauen, mit wachsender Panik nach ihr zu suchen, unten, im Garten und in allen Zimmern, um schließlich zu entdecken, dass das Fenster offen steht und die Vorhänge – Ruth stellt sie sich rosa vor, bedruckt mit Walt-Disney-Prinzessinnen – im Wind wehen. Sie sieht das alles so deutlich vor sich, dass sich ihr förmlich die Nackenhaare sträuben, und doch kann sie nicht nachempfinden, was Alice Downeyin diesem Moment gefühlt haben muss, was sie auch jetzt noch fühlt, zehn Jahre danach. Das eigene Kind zu verlieren, es bei Nacht und Nebel entführt zu wissen wie in einem grausamen Märchen – das muss der Albtraum einer jeden Mutter sein.
Doch Ruth ist keine Mutter. Sie ist Archäologin, und es wird Zeit, dass sie sich an die Arbeit macht. Nelson braucht ihre professionelle Hilfe, also muss sie sich auch von ihrer professionellen Seite zeigen. Sie schaltet den Computer aus und schlägt den Ordner mit den Briefen auf. Ein wenig verwundert, dass Nelson das noch nicht getan hat, sortiert sie sie zunächst nach Datum und inspiziert dann Tinte und Papier. Zehn der zwölf Briefe scheinen auf demselben Standardpapier gedruckt zu sein wie der zuletzt geschickte Brief. Das allein muss aber noch nichts heißen, sagt sich Ruth. Dieses Papier verwenden vermutlich neun von zehn Leuten, die einen Drucker besitzen. Auch das Schriftbild ist völlig alltäglich: Times New Roman, wenn sie sich nicht irrt. Doch zwei der Briefe sind mit der Hand geschrieben, auf dem linierten Papier, das man als Ringbucheinlage verwendet, mit dem schmalen roten Rand und den Löchern zum Einheften. Geschrieben wurden sie mit einem dünnen Filzstift, wie ihn Ruth aus ihrer Schulzeit noch unter dem Namen «Schönschreiber» kennt. Die Schrift ist
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