Totenpfad
macht es ihr auch nichts aus, aber dennoch ist es eigenartig, jemandem zu begegnen, der ebenso einsam ist. Wie zwei einsame Weltumsegler, die einander plötzlich am Kap der Guten Hoffnung begegnen. Sie verstehen einander, und doch können sie durch ihre Lebensumstände niemals Freunde werden.
Ed kommt mit einem großen Glas Weißwein zurück. Ruth überreicht ihm ihre Flasche, und er freut sich so überschwänglich darüber, dass sie fürchtet, es könnte kein besonders guter Wein sein.
«Und, Ruth?» Ed bleibt neben ihr stehen; wahrscheinlich genießt er es, zur Abwechslung einmal auf jemanden hinunterzuschauen. «Haben Sie in letzter Zeit irgendwelche verborgenen Schätze gehoben?»
Ruth stellt fest, dass sie keine Lust hat, Ed von der Leiche im Moor zu erzählen, von den Torques oder auch nur vom Henge. Obwohl sie selbst nicht recht weiß, warum,hat sie doch das Gefühl, dass dies alles noch ein Weilchen das Geheimnis des Salzmoors bleiben sollte. David zählt da nicht – er ist gewissermaßen ein Teil der Landschaft.
«Ich unterrichte an der Universität», sagt sie schließlich. «Da machen wir nicht viele Ausgrabungen. Immerhin dürfen die Studenten jedes Frühjahr an einer Ausgrabung teilnehmen, aber dabei finden sie immer dieselben Gegenstände.»
«Und wieso?», fragt Ed.
«Weil wir immer schon im Voraus wissen, was dort zu finden ist», antwortet Ruth. «Sie müssen ja schließlich etwas finden, sonst würden zumindest die Amerikaner ihr Geld zurückverlangen.»
«Amerikaner», wirft David unvermittelt ein. «Furchtbare Leute. Letztes Jahr haben doch tatsächlich welche versucht, einen Sanderling zu fangen. Offenbar glaubten sie, er wäre verletzt.»
«Was ist denn ein Sanderling?», erkundigt sich Ed.
David sieht ihn erstaunt an. «Ein Vogel. Ein recht verbreiteter sogar. Sanderlinge laufen dicht am Wasser den Strand entlang und picken Krebstiere auf. Diese Amerikaner dachten, er müsste verletzt sein, weil er nicht weggeflogen ist.»
«Hier gibt es sicher eine Menge interessanter Vögel», bemerkt Ed mit spürbarem Desinteresse. Er wippt bereits wieder auf den Ballen, als wäre er auf der Suche nach einem besseren Gesprächspartner.
Doch David ist wie verwandelt. «Es ist großartig», bestätigt er mit leuchtenden Augen. «Diese Wattlandschaft ist ein wahres Vogelparadies, weil sie so nahrhaft ist. Oft sieht man ganze Schwärme von Zugvögeln, die auf ihren Flügen hier Rast machen, um Nahrung zu suchen.»
«Wie ein Rastplatz an der Autobahn», sagt Ruth.
David lacht. «Ganz genau! Im Winter ist manchmal das ganze Salzmoor voller Vögel, die im Watt nach Futter suchen.Wir hatten schon bis zu zweitausend Kurzschnabelgänse, die aus Island und Grönland gekommen waren, und es gibt auch eine ganze Reihe einheimischer Wasservögel: Schellenten, Schnatterenten, Gänsesäger, Löffelenten, Spießenten. Ich habe sogar schon einen Neuntöter gesehen.»
Ruth schwirrt ein wenig der Kopf von all den Vogelnamen, doch sie findet sie klangvoll, und es macht ihr Spaß, mit einem Experten zu reden, einem Menschen, der sich genauso für seine Arbeit begeistert wie sie sich für ihre. Ed hat sich in der Zwischenzeit davongestohlen.
«Ich erkenne eine Schnepfe, wenn ich eine sehe», sagt sie. «Und ich glaube, ich habe auch einmal eine Rohrdommel gehört. Die haben doch diesen sehr durchdringenden Ruf.»
«Stimmt, es nistet ein Pärchen im Moor», erwidert David. «Vermutlich haben Sie das Männchen gehört. Es ruft vor allem frühmorgens, sobald es hell wird. Ein dumpfer Laut, den man kilometerweit hört.»
Sie schweigen ein Weilchen, und Ruth merkt erstaunt, wie angenehm ihr dieses Schweigen ist. Sie hat gar nicht das Gefühl, es mit lustigen Anekdoten über die Katzen füllen zu müssen. Stattdessen trinkt sie einen Schluck Wein und sagt: «Um nochmal auf diese Holzpfähle im Moor zurückzukommen …»
David blickt überrascht auf und setzt zu einer Erwiderung an, doch da eilt Sammy eifrig herbei und teilt ihnen mit, dass es in der Küche auch Essen gebe.
«Und dann müssen wir zusehen, dass wir Sie beide unter die Leute bringen. Sie können ja schließlich nicht den ganzen Abend schweigend hier herumsitzen, stimmt’s?»
Und so stehen sie gehorsam auf und folgen ihrer Gastgeberin in die Küche.
Auch Nelson ist auf einer Party, bei der es allerdings sehr viel glamouröser zugeht als bei Ruths kleinem Fest – und erheblich lauter. Sie findet über einer Weinbar statt, und der Champagner
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