Totenpfad
machen, doch als sie unten ist, leuchten die Lichter in Sammys Haus nur noch heller und verführerischer. Wie Irrlichter, denkt Ruth unvermittelt. Sie sieht Flints Schwanz durch die Katzenklappe verschwinden und ertappt sich bei dem Gedanken, dass selbst ihre Katze an Silvester ausgeht. Warum hat sie sich bloß so darauf gefreut, den Abend allein zu verbringen?Und warum reagiert sie auf Einladungen immer erst mal damit, sich eine Ausrede einfallen zu lassen? Ihre Mutter würde sagen, dass sie langsam zu einer traurigen alten Jungfer wird, und vermutlich hätte sie auch noch recht damit.
Ruth geht zurück nach oben, doch die Wörter auf der Seite verschwimmen ihr vor den Augen, und sie schafft es einfach nicht, sich in den wunderbar schaurigen Straßen von Edinburgh zu verlieren. Fast ohne es selbst zu merken, steht sie auf und streift eine schwarze Hose und ein schwarzes Top über. Dann zieht sie noch eine rote Seidenbluse darüber, die Shona ihr vor Jahren einmal geschenkt hat. Sie nimmt eine Flasche Rotwein aus ihrem kleinen Weinvorrat und steht schließlich, immer noch wie ferngesteuert, vor dem Haus ihrer Nachbarn, wo sie an die Tür klopft.
Sammy ist ganz aus dem Häuschen. «Ruth! Wie schön! Ich dachte, Sie können nicht kommen.»
«Nein … also, ich kämpfe mit einer Erkältung und dachte, ich bleibe besser zu Hause. Aber dann habe ich die Musik gehört und …»
«Ich freue mich ja so, Sie zu sehen. Wir freuen uns beide. Ed! Schau nur, wer da ist!»
Ed, ein kleiner Mann mit funkelnden, wachsamen Äuglein, eilt herbei, um Ruth die Hand zu schütteln.
«Sieh an, sieh an, die geheimnisvolle Nachbarin. Wie schön, dass Sie kommen konnten. Ich will mich schon seit Ewigkeiten mal mit Ihnen unterhalten, ich bin nämlich selbst ein großer Archäologie-Fan und verpasse keine Folge von
Time Team
.»
Ruth beschränkt sich auf ein höfliches Murmeln. Wie viele Archäologen findet sie die dokumentarische Serie
Time Team
bestenfalls populärwissenschaftlich und meist ausgesprochen ärgerlich.
«Kommen Sie.» Ed führt sie am Arm ins Haus. Obwohl Ruth flache Schuhe trägt, reicht er ihr gerade bis zum Kinn. Das Wochenendhaus ist größer als ihr eigenes, weil es einen zweistöckigen Anbau gibt – Ruth erinnert sich noch gut an den Lärm und den Ärger, als er vor drei Jahren gebaut wurde. Für eine Party ist es allerdings immer noch recht klein: Das Wohnzimmer wirkt überfüllt, obwohl nur fünf oder sechs Gäste da sind.
«Das sind unsere Freunde Derek und Sue aus London», erklärt Ed, der an ihrer Seite auf und ab hüpft. Ruth fühlt sich geradezu walkürenhaft neben ihm. «Und das hier sind Nicole und ihr Mann Roger aus Norwich. Und das … aber Sie kennen sich ja sicher schon … ist unser gemeinsamer Nachbar David.»
Überrascht dreht Ruth sich um und sieht David, den Vogelschutzwart, mit leicht verlegener Miene auf dem Sofa sitzen. Er hält sein Bierglas wie einen Schild vor den Körper.
«Hallo», sagt er lächelnd. «Ich hatte schon gehofft, dass Sie auch kommen.»
«Oho», ruft Ed vergnügt. «Was haben wir denn da? Eine erblühende Romanze im Wattenmeer?»
Ruth spürt, dass sie rot wird. Zum Glück ist es recht dämmrig im Zimmer. «David und ich kennen uns auch erst seit ein paar Wochen», sagt sie.
«Was sind wir bloß für Nachbarn!» Ed schlägt sich theatralisch mit der Hand an die Stirn. «So viele Jahre, und wir lernen uns gerade erst kennen. Was wollen Sie trinken, Ruth? Rotwein? Weißwein? Bier? Ich glaube, es ist auch noch etwas Glühwein da.»
«Ein Glas Weißwein wäre schön, danke.»
Ed hüpft von dannen, und Ruth setzt sich neben David auf das Sofa. Sie hat immer noch ihre Rotweinflasche in der Hand.
«Ach herrje», sagt sie. «Die hätte ich Ed geben sollen. Jetzt sieht es so aus, als wollte ich sie ganz alleine trinken.»
«Ich habe Schlehenlikör mitgebracht, in einer Plastikflasche», erwidert David. «Ich glaube, sie dachten, es ist eine Bombe.»
Ruth muss lachen. «Ich liebe Schlehenlikör. Machen Sie den selbst?»
«Ja», sagt David. «Die Schlehen sind hier im Herbst ganz wunderbar. Genau wie die Brombeeren. Einmal habe ich auch Brombeerwein gemacht.»
«Und, war er gut?»
«Ich denke schon. Aber ich trinke selbst kaum Alkohol, und es war sonst niemand da, dem ich davon anbieten konnte.»
Das begreift Ruth nur zu gut. Auch sie spricht häufig am Wochenende mit niemandem außer mit den Katzen. Es ist ihre eigene Entscheidung, und im Großen und Ganzen
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