Totenpfad
uns in einer halben Stunde am Parkplatz in Blakeney. Aber passen Sie auf, der ist bei Flut oft überschwemmt.»
Blakeney ist für seine Seehunde berühmt. Am Blakeney Point ragt das Land ins Meer hinein und bildet eine kiesbedeckte Landzunge – der ideale Ort zur Fortpflanzung für die Tiere. Verschiedene ortsansässige Fischer bieten Bootsfahrten zu den Seehunden an, und im Sommer sieht man die kleinen Boote voll aufgekratzter Touristen mit riesigen Kameras den ganzen Tag zwischen dem Hafen von Blakeney und der Landzunge kreuzen. Die Robben lassen das alles mit bemerkenswerter Gelassenheit über sich ergehen. Sie liegen gemütlich dicht beieinander am Strand, und Ruth denkt sich jedes Mal, dass sie irgendwie an Betrunkene erinnern, die aus dem Pub geflogen sind. Sie selbst ist deutlich weniger tolerant und meidet Blakeney im Sommer, wo es geht, doch heute stehen nur wenige Fahrzeuge auf dem Parkplatz. Eines davon ist Nelsons dreckiger Mercedes, der so weit wie möglich vom Meer entfernt steht. Ruth parkt ihren Renault direkt neben ihmund holt ihre Gummistiefel aus dem Kofferraum. Sie lebt schon lange genug in Norfolk, um zu wissen, dass Gummistiefel eigentlich nur selten fehl am Platz sind.
«Sie sind spät dran», begrüßt Nelson sie.
«Im Gegenteil, ich bin zu früh», kontert Ruth. «Seit Ihrem Anruf sind erst fünfundzwanzig Minuten vergangen.»
Während sie die Stiefel überstreift, überlegt Ruth, warum Nelson sie überhaupt dazugebeten hat. Diesmal braucht er doch ganz sicher kein archäologisches Expertenwissen, und im Gegensatz zu Erik kennt sie Cathbad auch kaum. Dieser Nelson ist ihr ein einziges Rätsel. Als sie von Sammys Silvesterparty zurückkam, war es bereits ziemlich spät, aber sie hat sich trotzdem nicht gewundert, ihr Handy blinken zu sehen. In der Silvesternacht brauchen Nachrichten meistens sehr viel länger als sonst, wahrscheinlich hatten ein paar Freunde, Shona beispielsweise, versucht, ihr eine SMS von einer weinseligen Party zu schicken. Und tatsächlich war die erste Nachricht von Shona: «Frohes neues Jahr. Liam ist ein blöder Arsch!» Die zweite Nachricht kam von Erik, doch die dritte stammte interessanterweise von einem «unbekannten Anrufer». Nachdem Ruth die SMS gelesen hatte, wusste sie erst einmal nicht, wer «HN» sein sollte. Erst als sie schon bei der vierten Nachricht war, fiel es ihr ein. Harry Nelson. Detective Chief Inspector Harry Nelson schrieb eine SMS, um ihr ein frohes neues Jahr zu wünschen. Was hatte das bloß alles zu bedeuten?
Die vierte Nachricht war von Peter gewesen.
«Da drüben ist es.» Nelson deutet in die entsprechende Richtung.
Ruth sieht einen klapprigen Wohnwagen, der direkt oberhalb des Strandes steht. Ringsum lagern umgedrehte Fischerboote, und der Wohnwagen ist teilweise von einer Plane verdeckt. Im Grunde sieht er selbst aus wie ein Boot,nur dass er lila gestrichen ist und einen Blitzableiter auf dem Dach hat.
Ruth wirft Nelson einen erstaunten Blick zu. Der zuckt die Achseln. «Vielleicht hat er ja Angst vor Blitzen.»
Oder er will sie gerade anlocken, denkt Ruth.
Sie stapfen über den Kiesstrand, eine Anforderung, der Ruths Gummistiefel sehr viel besser gewachsen sind als Nelsons Halbschuhe. Auf der Hafenmauer sitzen zwei Fischer, die sie neugierig mustern. Als sie vor dem Wohnwagen stehen, setzt Nelson zum Klopfen an, doch die Tür wird geöffnet, bevor er sie auch nur berührt hat. Im Türrahmen steht eine Gestalt mit einem langen, lilafarbenen Umhang und einem Stab in der Hand.
Cathbad. Ruths erster Gedanke ist, dass er sich in den vergangenen zehn Jahren kaum verändert hat. Damals hatte er langes, dunkles Haar, das er manchmal zum Pferdeschwanz gebunden, manchmal offen trug. Jetzt ist es kürzer und von grauen Strähnen durchzogen. Er hat sich einen Bart wachsen lassen, der erstaunlicherweise noch pechschwarz ist und dadurch ein bisschen wie eine Verkleidung aussieht, wie angeklebt. Cathbads Augen sind ebenfalls dunkel, und er mustert Nelson und Ruth misstrauisch. Ruth hat ihn als nervösen, reizbaren Menschen in Erinnerung, der jederzeit explodieren konnte. Inzwischen wirkt er ruhiger, beherrschter, doch ihr fällt auf, dass die Knöchel an der Hand, die den Stab hält, weiß hervortreten.
«Michael Malone?», fragt Nelson förmlich.
«Cathbad.»
«Mr. Malone, auch bekannt unter dem Namen Cathbad. Ich bin Detective Chief Inspector Nelson von der Polizei Norfolk. Dürfen wir hereinkommen?» Dann fügt er hinzu, als
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