Totenpfad
fließt in Strömen. Aus den Lautsprechern dringen dissonante Klänge, und es werden scheußliche kleine Kanapees gereicht. Nelson, der direkt von der Arbeit gekommen ist, hat etwa zwanzig von den Dingern verspeist; jetzt ist ihm ein wenig übel. Eine Garnele in Blätterteig schwimmt einsam im Schmelzwasser einer Eisskulptur. Er sehnt sich nach einer Zigarette.
«Alles klar bei dir?» Michelle, seine Frau, schwebt in einem eleganten, goldmetallicschimmernden Kleid vorbei.
«Nein. Wann gehen wir nach Hause?»
Sie lacht, als hätte er einen Scherz gemacht. «Das ist eine Silvesterparty, da bleibt man normalerweise bis Mitternacht.»
«Ich habe eine viel bessere Idee. Wir gehen nach Hause und lassen uns was zu essen kommen.»
«Mir gefällt es hier.» Wie zum Beweis lächelt sie strahlend und wirft ihr langes, blondes Haar zurück. Sie sieht umwerfend aus, das muss er ihr lassen.
«Und außerdem …» Ihre Miene wird wieder ernster. «… wie würde ich denn dann vor Tony und Juan dastehen?» Tony und Juan sind Michelles Vorgesetzte, ihnen gehört der Friseursalon, den sie führt. Sie sind schwul, was Nelson nicht weiter stört, solange er nicht auf eine ihrer Partys muss. Er findet diese Einstellung sehr fortschrittlich und ist jedes Mal gekränkt, wenn Michelle ihm vorhält, er habe Vorurteile.
«Die merken das doch gar nicht, wenn wir gehen. So voll, wie es hier ist.»
«Und ob sie das merken. Außerdem will ich nicht nach Hause. Komm schon, Harry.» Sie legt ihm die Hand auf den Arm, fährt mit ihren perfekt manikürten Fingernägelnden Ärmel entlang. «Entspann dich. Geh mal ein bisschen aus dir raus.»
Sein Widerstand lässt nach. «Du weißt doch, dass mir das nicht liegt. Außerdem bin ich hier der einzige Mensch ohne Strähnchen im Haar.»
«Ich mag deine Haare», sagt Michelle. «Die haben was von George Clooney.»
«Weil der auch so grau ist, meinst du?»
«Nein, weil er so distinguiert aussieht. Komm, wir holen dir noch was zu trinken.»
«Hier gibt’s ja nicht mal Bier», jammert Nelson. Doch er lässt sich von ihr fortziehen.
Ruth und David stehen am Fenster des Wintergartens und sehen zu, wie Ed und Derek versuchen, ein Feuerwerk zu zünden. Der Wintergarten ist ein weiterer Anbau des Wochenendhäuschens und bietet einen schönen Blick auf King’s Lynn, wo man bereits etliche kleine Explosionen am Himmel sieht, mit denen die Leute das neue Jahr begrüßen. Ed allerdings hat Schwierigkeiten: Es nieselt, und sein Gasanzünder streikt. Sammy ruft ihm vom Fenster aus hilfreiche Tipps zu, die Gäste werden unruhig. Es ist bereits zehn vor zwölf.
«Seltsamer Brauch», bemerkt David, «zu Beginn eines neuen Jahres ein Feuerwerk abzubrennen.»
«Ich dachte immer, es dient dazu, dem neuen Jahr symbolisch den Weg zu zeigen», sagt Ruth.
«Oder das alte Jahr abzufackeln?», schlägt Dereks Frau Sue vor.
«Was ist denn mit dem Brauch, dass um Mitternacht ein großer, dunkelhaariger Mann über die Schwelle tritt?», mischt sich Sammy ein. «Das sollten wir machen.»
«Haben wir denn große, dunkelhaarige Männer hier?», fragt Sue lachend.
«Ed ist immerhin dunkelhaarig …» Sammy lässt ein illoyales Kichern hören.
«Was ist mit Ihnen?» Sue dreht sich zu David um, der sich sichtlich Mühe gibt, im bohnerwachsglänzenden Kiefernboden zu versinken.
«Ich fürchte, mir gehen schon etwas die Haare aus», erwidert er ausweichend.
«Ach was. Das geht schon.»
«Muss er nicht auch ein Stück Kohle in der Hand haben?», wirft Nicole ein, die bisher nur wenig gesagt hat. Sie ist eine zierliche Französin, neben der Ruth sich wie ein Walross vorkommt.
«Wir heizen leider ausschließlich mit Öl», sagt Sammy. «Aber vielleicht reicht ja auch ein Glas Marmite.»
«Marmite!» Nicole schüttelt sich übertrieben. «Was für eine scheußliche englische Angewohnheit!»
«Na, immerhin ist Marmite schwarz, das ist das Wichtigste», sagt Sammy.
Ruth muss an die Irrlichter denken und an den Hufschmied, der dazu verdammt ist, mit seinem Kohlenstück aus dem Ofen des Teufels die Unterwelt zu durchwandern. Draußen schießt doch noch eine Silvesterrakete in die Höhe, und gleich darauf ist der Himmel übersät mit grünen und gelben Sternen. Alle klatschen Beifall. Im Fernseher, der im Hintergrund läuft, beginnt ein Grüppchen halb hysterischer, drittklassiger Prominenter neben dem eingeblendeten Big Ben den Countdown der letzten Sekunden.
«Zehn, neun, acht …»
Ed, der im Garten
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