Totenpfad
gesprochen, ihr gesagt, dass sie keine Angst zu haben braucht. Das wäre nur … Was? Sie kann sich nicht mehr an das Wort erinnern.
Sonst hört sie immer nur die Vögel. Die ersten kommen, wenn es noch dunkel ist; ihre langgezogenen, schwankenden Töne stellt sie sich wie Luftschlangen vor, die sich um alles herumwickeln. Luftschlangen bei einem Fest, rot, gold und grün, so wie die Lichter am Himmel. Dann sind da noch die leiseren Töne, die von ganz weit unten kommen, als würde ein Mann sich räuspern. Wie er, wenn er plötzlich im Dunkeln hustet und sie nicht weiß, wo er ist. Am liebsten hat sie die Laute, die von ganz oben kommen, am Himmel kreisen und wirbeln. Sie stellt sich vor, dass sie hochfliegt zu ihnen, ganz weit hinauf, dorthin, wo es blau ist. Aber tagsüber ist das Fenster abgedeckt, und sie sieht die Vögel nie.
Sie schaut zur Falltür hinauf. Wann er wohl wieder nach unten kommen wird? Sie glaubt, dass sie ihn mehr hasst als alle anderen auf der Welt – aber eigentlich gibt es doch sonst niemanden. Und manchmal ist er ja auch nett. Er hat ihr die Decke gebracht, als es kalt wurde. Und er gibt ihr zu essen, obwohl er manchmal böse wird, wenn sie nichts isst. «Wir müssen dich ein bisschen mästen», sagt er. Warum, weiß sie nicht. Das Wort erinnert sie an eine ururalte Geschichte, die von irgendwo aus dieser anderen
Zeit stammt, dieser Zeit, die sie bestimmt nur geträumt hat. Es ging um eine Hexe und ein Haus aus lauter Süßigkeiten. Was Süßigkeiten sind, weiß sie noch: kleine Schokoladenkugeln, die man sich auf die Zunge legt, wo sie zu klebriger Süße schmelzen, so süß, dass es kaum auszuhalten ist.
Sie glaubt, dass er ihr irgendwann einmal Schokolade gegeben hat. Sie hat sich erbrochen, der Steinboden stank danach, und sie musste sich hinlegen, der Kopf tat ihr weh, und er hat ihr Wasser zu trinken gegeben. Das Glas klapperte an ihren Zähnen. Inzwischen hat sie mehr Zähne. Die alten hat er mitgenommen – warum, weiß sie nicht. Die neuen Zähne fühlen sich eng und komisch im Mund an. Einmal hat sie versucht, in einer Metallschüssel ihr Spiegelbild zu sehen, aber da hat so ein grässliches Geschöpf zurückgeschaut. Ein Gespenstergesicht, ganz bleich, mit wirrem schwarzem Haar und schrecklich starren Augen. Das will sie nicht noch einmal sehen.
8
« Wir haben ihn gefunden.»
Es gibt nichts Ärgerlicheres, denkt Ruth, als Leute, die glauben, sich am Telefon nicht mit Namen melden zu müssen, sondern einfach davon ausgehen, dass man sie ohnehin erkennt, weil sie eine so unglaublich einprägsame Stimme haben. In diesem Fall hat sie ihn allerdings tatsächlich an der Stimme erkannt. Diese kurzen, nordenglischen Vokale, die mühsam unterdrückte Gereiztheit – das ist alles unverkennbar. Um ihm eine Lektion zu erteilen, fragt sie aber trotzdem: «Wer ist denn da?»
«Nelson. Harry Nelson. Von der Polizei.»
«Ach. Hallo. Und wen genau haben Sie gefunden?»
«Cathbad. So heißt er natürlich nicht wirklich. Sein richtiger Name ist Michael Malone.»
Ruth würde am liebsten erwidern:
Das wusste ich längst
. Stattdessen fragt sie: «Und wo haben Sie ihn gefunden?»
«Er ist immer noch hier in Norfolk, haust in einem Wohnwagen in Blakeney. Ich wollte jetzt gleich bei ihm vorbeischauen. Und ich dachte, Sie möchten vielleicht mitkommen.»
Einen Moment lang sagt Ruth gar nichts. Ein Teil von ihr möchte natürlich unbedingt mitkommen. Sie ist ja bereits in diese Ermittlungen involviert, auch wenn sie sich das noch nicht richtig eingestehen will. Stundenlang hat sie in den Briefen gelesen, auf der Suche nach Hinweisen, zufälligen Bemerkungen, nach irgendetwas, was sie auf den Verfasser bringen könnte. Sie fühlt sich Lucy undScarlet und dem namenlosen Eisenzeit-Mädchen aus dem Salzmoor merkwürdig nahe. In ihrer Vorstellung gibt es zwischen den dreien und ihr eine Verbindung. Außerdem ist sie neugierig auf Cathbad, und da sie es war, die Nelson auf ihn gebracht hat, fühlt sie sich auch ein wenig verantwortlich. Aber sie empfindet es als Beleidigung, dass Nelson einfach davon ausgeht, sie werde jederzeit alles stehen und liegen lassen, wenn er anruft. Eigentlich hat sie nämlich mehr als genug damit zu tun, ihre Vorlesungen vorzubereiten und Dias zu aktualisieren. In der kommenden Woche fängt die Uni wieder an. Aber natürlich können all diese Arbeiten gut auch noch ein paar Stunden warten.
«Hallo? Ruth?», fragt Nelson ungeduldig.
«Gut», sagt Ruth. «Wir treffen
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