Totenpfad
Peter will offensichtlich reden. Er erzählt von der Arbeit, von seinem Skiurlaub (daher die Bräune) und tut seine Ansichten über die Regierung kund, die in jenem rauschhaften Sommer vor zehn Jahren gerade an die Macht gekommen war. Victoria und Daniel erwähnt er mit keinem Wort. Ruth erzählt von ihrer Arbeit, ihren Eltern und den Eisenzeitleichen.
«Was hält denn Erik davon?», fragt Peter. Er geht rasch,mit großen Schritten, über das unebene Gelände, und Ruth muss fast rennen, um mit ihm Schritt zu halten.
«Er glaubt, es hängt alles zusammen.»
«Na klar.» Peter ahmt Eriks schweren, norwegischen Akzent nach. «Der heilige Ort, die Macht der Landschaft, das Tor zwischen Leben und Tod.»
Ruth muss lachen. «Genau. Phil hingegen hält alles für Zufall und wartet auf die geophysikalischen Berichte und die Ergebnisse der Radiokarbondatierung.»
«Und was glaubst du?»
Ruth schweigt. Jetzt erst wird ihr klar, dass Erik ihr diese Frage gar nicht gestellt hat.
Schließlich sagt sie: «Ich glaube, dass ein Zusammenhang besteht. Die erste Eisenzeitleiche markiert den Anfang des Sumpflands, und der Dammweg führt direkt zum Henge, der wiederum den Punkt markiert, wo das Moor ins Watt übergeht. Was die Knochen aus Spenwell bedeuten, weiß ich nicht, aber sie sind offensichtlich auch eine Art Grenzmarkierung. Grenzen sind eben bedeutsam. Schau dir doch nur an, wie wichtig es uns heute noch ist, alles an seinem angestammten Ort zu halten. Ständig wollen die Leute, dass man auf Abstand geht. Ich glaube, die Urmenschen wussten ganz gut, wie man das macht.»
«Du hast ja auch immer großen Wert auf deine Privatsphäre gelegt», sagt Peter mit leiser Verbitterung.
Ruth sieht ihn an. «Hier geht es doch gar nicht um mich.»
«Ach nein?»
Sie sind beim ersten versunkenen Pfahl angekommen. Peter betastet nachdenklich den Eichenstumpf. «Müsst ihr die Pfähle ausgraben?»
«Erik möchte das vermeiden.»
«Ich erinnere mich noch an die ganze Aufregung, alswir den Henge ausgegraben haben. Die Druiden, die sich an die Holzpfähle gekettet haben, die Polizei, die sie gewaltsam entfernt hat …»
«Ja.» Auch Ruth erinnert sich daran. Sehr lebhaft sogar. «Aber es ist doch so … Durch die Ausgrabung haben wir eine ganze Menge über den Henge herausgefunden, beispielsweise, was für Äxte verwendet wurden, um das Holz zu fällen. Wir haben sogar Fasern von den Seilen gefunden, mit denen die Pfähle transportiert wurden.»
«Mistelzweige, nicht?»
«Du hast wirklich ein sehr gutes Gedächtnis.»
«Ich erinnere mich an jedes einzelne Detail aus diesem Sommer.»
Weil sie spürt, dass Peter sie eindringlich ansieht, meidet Ruth seinen Blick und schaut stattdessen aufs Meer hinaus, wo die Wellen bereits recht nahe kommen, weiße Gischt vor all dem Grau. Plötzlich fliegt ein Stein an ihr vorbei, hüpft ein-, zwei-, dreimal übers Wasser.
Sie dreht sich nach Peter um, der grinsend seinen Wurfarm dehnt.
«Das hast du schon immer gut gekonnt», sagt sie.
«Ist eben so ein Männerspiel.»
Eine Zeitlang schweigen sie und sehen zu, wie die Wellen immer näher an ihre Füße heranschwappen. Jedes Mal, denkt Ruth, will man ein klein wenig zu lang stehen bleiben, bis das Wasser die Füße tatsächlich erreicht. Erst im letzten Augenblick weicht man zurück. Dabei muss man gar nicht so sehr auf die großen Brecher achten, die kraftvoll an Land brausen, sondern auf die kleinen, hinterhältigen Wellen, die aus dem Nichts zu kommen scheinen und einem den sandigen Boden unter den Füßen wegschwemmen. Diese Wellen überraschen einen oft am meisten.
«Peter», sagt sie schließlich. «Warum bist du hier?»
«Das habe ich dir doch schon gesagt. Ich recherchiere für mein Buch.»
Ruth sieht ihn unverwandt an. Der Wind peitscht den Sand in die Höhe, er fliegt ihnen ins Gesicht wie feiner, körniger Regen. Ruth reibt sich die Augen, schmeckt das Salz in der Luft. Auch Peter wischt sich Sand aus dem Gesicht, und als er sich wieder zu ihr umdreht, sind seine Augen rot.
«Victoria und ich, wir haben uns getrennt. Ich glaube, ich … ich wollte einfach hierher zurück.»
Ruth macht einen tiefen Atemzug, fast eine Art Seufzen. Irgendwie hat sie es die ganze Zeit gewusst. «Das tut mir leid», sagt sie. «Warum hast du mir das nicht früher erzählt?»
«Ich weiß auch nicht.» Peter spricht in den Wind hinein, sodass sie ihn kaum versteht. «Wahrscheinlich wollte ich einfach nur, dass alles wieder so wird wie
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