Totenpfad
soll. Sie kann ihn schlecht mit zu Shona nehmen. Ein solcher Ortswechsel würde ihn völlig verunsichern, er hat ja noch kaum Gelegenheit gehabt, sich von Sparkys Tod zu erholen. Sie wirdDavid bitten müssen, ihn zu füttern. Er hat ihr zwar einmal erzählt, dass er keine Katzen mag, weil sie Vögel fressen, aber zwei, drei Tage lang wird es ihm schon nichts ausmachen. Außerdem ist er der Einzige, der dafür in Frage kommt, weil die Wochenendfahrer wieder in London sind.
Es ist gerade erst sechs Uhr. Ruth macht sich einen Kaffee und etwas Toast (die erste Mahlzeit seit vierundzwanzig Stunden: wenn sie so weitermacht, ist sie in null Komma nichts bei Kleidergröße 38) und setzt sich an den Tisch, um auf den Sonnenaufgang zu warten. Der Himmel ist noch dunkel, doch am Horizont zeigt sich bereits eine schwache, goldene Linie. Es ist Ebbe, über dem Sumpfland hängt der frühe Morgennebel. Gestern um diese Zeit war sie mit Nelson auf dem Watt unterwegs.
Um sieben geht sie zu David hinüber. Sie ist überzeugt, dass er ein Frühaufsteher sein muss, allein schon wegen des morgendlichen Vogelkonzerts. Inzwischen ist es hell draußen, ein klarer, kalter Tag. Der Regen vom Vortag hat den Himmel reingewaschen. Heute wird nichts mehr die Reporter aufhalten. Nelson hat recht: Sie muss fort von hier.
Es dauert eine ganze Weile, bis David öffnet, doch als er endlich an die Tür kommt, ist er immerhin vollständig angezogen. Er hat eine Regenjacke an und scheint bereits draußen gewesen zu sein.
«Entschuldigen Sie die frühe Störung», sagt Ruth. «Aber ich muss kurzfristig ein paar Tage verreisen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, Flint zu füttern? Meinen Kater?»
David sieht sie verwirrt an. «Flint?», wiederholt er.
«Ja. Mein Kater. Können Sie ihn vielleicht ein paar Tage lang füttern? Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar.»
Erst jetzt scheint David sie richtig zu erkennen. «Ruth»,sagt er. «Waren Sie auch in dieses Schauspiel gestern verwickelt?»
Schauspiel. Das scheint so gar kein passendes Wort für das, was tags zuvor auf dem Salzmoor geschehen ist. Es war ein Tag der unterschiedlichsten Gefühle, aber er hat sich niemals unwirklich angefühlt. «Ja», antwortet Ruth knapp. «Ich habe die Leiche gefunden.»
«Mein Gott!» David sieht sie entsetzt an. «Wie schrecklich. Dann kann ich verstehen, dass Sie wegwollen.»
«Gestern haben mich ein paar Reporter belästigt. Ich muss mich einfach eine Zeitlang aus der Schusslinie bringen.»
«Reporter.» Davids Miene verdüstert sich. «Teufelspack. Haben Sie gesehen, wie die hier gestern mitten durchs Schilf gestapft sind und ihren Müll und ihre Zigarettenkippen überall hingeworfen haben? Glauben Sie, die kommen heute wieder?»
«Ich fürchte, ja.»
«Dann muss ich wohl ein paar Kontrollgänge machen.» Er blickt grimmig drein, und Ruth hält es für angebracht, ihn noch einmal an Flint zu erinnern. Sie reicht ihm ihren Hausschlüssel.
«Können Sie sich dann also um meinen Kater kümmern? Sein Futter steht in der Küche. Er bekommt eine kleine Dose täglich und dazu noch ein paar Brekkies. Lassen Sie sich bloß nicht erweichen, ihm mehr zu geben. Ansonsten kommt und geht er einfach, wie er will, er hat ja seine Katzenklappe. Ich lege einen Zettel auf den Tisch, wo ich zu erreichen bin.»
David nimmt den Schlüssel in Empfang. «Futter. Katzenklappe. Zettel. Ja, in Ordnung, mache ich.»
Ruth kann nur hoffen, dass er auch daran denken wird.
Es ist kaum Verkehr auf den Straßen, und sie schafft es in Rekordzeit zur Uni. Auch dort sind die Parkplätze leer.Wie Akademiker neigen offenbar auch Journalisten nicht gerade zum Frühaufstehen. Ruth gibt den Code ein, der die Türen öffnet, und flüchtet sich mit einem erleichterten Seufzer in ihr Büro. Hier wird sie zumindest eine Zeitlang ihre Ruhe haben.
Drei Tassen Kaffee und mehrere Seiten Vorlesungsnotizen später klopft es an ihre Tür.
«Herein», ruft Ruth. Sie vermutet, dass es Phil sein wird, der sich seine tägliche Dosis Sensationen abholen möchte.
Doch es ist Shona. Das überrascht Ruth: Shona verlässt die Philosophische Fakultät sonst nur selten.
«Ruth!» Shona stürzt auf sie zu, um sie zu umarmen. «Ich habe es gerade erst gehört. Du hast also wirklich die Leiche dieses armen kleinen Mädchens gefunden?»
«Wer hat dir das erzählt?», fragt Ruth.
«Erik. Ich habe ihn gerade draußen auf dem Parkplatz getroffen.»
Dann weiß es jetzt wohl bald die ganze Uni, denkt Ruth. Langsam
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