Totenpfad
Kiefernholz, Bettwäsche aus ägyptischer Baumwolle, Fotos von Paris und New York an den Wänden. Jetzt kann ich mich endlich entspannen, hat sie sich gesagt. Kein Mensch weiß, wo ich bin. Ich werde mich beruhigen, etwas Schönes essen, ein paar Gläser Wein trinken, und morgen fühle ich mich wieder wie neugeboren.
Ganz so ist es dann aber leider doch nicht gekommen. Ruth ist nervös und unausgeglichen. Immer wieder schaut sie auf ihr Handy, obwohl sie gar keinen Anruf erwartet. Sie macht sich Sorgen, dass David vergessen könnte, Flint zu füttern. Sie vermisst ihr kleines Haus, den einsamen, unseligen Blick auf das Salzmoor, und obwohl ihr fast schlecht ist vor Müdigkeit, weiß sie doch jetzt schon, dass sie die ganze Nacht kein Auge zutun wird. Sobald sie die Augen schließt, sieht sie alles wieder vor sich, wie einen nicht jugendfreien Film in einer einzigen Endlosschleife: der morgendliche Weg übers Watt, Scarlets Leiche, der schmale, leblos herabhängende Arm. Nelson, unrasiert und mit geröteten Augen vor ihrer Tür, Nelsons Körper an ihrem …
Und sie kann sich einfach nicht auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Die leise Hintergrundmusik, die Shona aufgelegt hat, erinnert sie an den Regen und an die Vogelstimmen,die plötzlich geschwiegen haben. Das sanfte Kerzenlicht lässt sie an Irrlichter denken, die mit ihrem trügerisch flackernden Schein unvorsichtige Wanderer in den Tod locken. Und als sie sich Shonas Bücherregal anschaut und dort T. S. Eliot gleich neben Shakespeare stehen sieht, fallen ihr die Lucy-Downey-Briefe wieder ein.
Wir, die lebendig warn, sind nun am Sterben.
«Und, glaubst du, er macht es?», fragt Shona, während sie Ruth noch einmal Wein nachschenkt.
«Was?» Ruth hat den Gesprächsfaden komplett verloren.
«Sie verlassen. Glaubst du, Liam wird Anne verlassen?»
Nie im Leben, denkt Ruth. Genauso wenig, wie Nelson Michelle verlassen wird.
«Vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber würdest du das denn wirklich wollen?»
«Keine Ahnung. Wenn du mich das vor einem halben Jahr gefragt hättest, hätte ich sofort ja gesagt. Aber jetzt? Es würde mir ehrlich gesagt eine Heidenangst machen. Schließlich hat es ja auch etwas Beruhigendes, mit einem verheirateten Mann zusammen zu sein.»
«Ach ja?»
«Ja. Man kann sich einfach immer denken: Wenn seine Frau nicht wäre, wäre er mit mir zusammen, und braucht sich nicht ständig mit anderen Schwierigkeiten in der Beziehung auseinanderzusetzen. Außerdem bleibt es spannend. Man kriegt ja gar keine Gelegenheit, sich gegenseitig zu langweilen.»
«Hattest du so was denn schon häufiger?» Ruth hat immer geglaubt, Liam sei Shonas erster verheirateter Freund, doch jetzt hört es sich fast so an, als hätte sie langjährige Erfahrung mit außerehelichen Verhältnissen. Wie Nelson, denkt Ruth mit leiser Verbitterung.
Shona setzt unvermittelt eine verschlossene, misstrauischeMiene auf. Sie gießt sich Wein nach und verschüttet dabei einiges auf ihrem schicken Bastteppich.
«Ach, na ja, ein-, zweimal», antwortet sie betont beiläufig. «Aber da kannten wir uns noch nicht. Nun trink schon aus, Ruth. Du bist ja rettungslos im Hintertreffen.»
Ruth behält recht mit der Befürchtung, nicht schlafen zu können. Sie versucht, sich in ihren Krimi zu vertiefen, doch Rebus und Siobhan erinnern plötzlich auf ebenso unangenehme wie explizite Weise an Nelson und sie. Schließlich klappt sie sogar ihr Laptop auf und versucht zu arbeiten, aber obwohl sie verglichen mit Shona im Hintertreffen war, hat sie doch deutlich zu viel getrunken, um sich noch mit Grabstätten im Mesolithikum beschäftigen zu können. Ihre Gedanken schweifen ab. Grabstätten, Bestattungen, Leichen, Knochen … Warum hat Archäologie eigentlich so viel mit dem Tod zu tun?
Sie trinkt ein Glas Wasser, dreht ihr Kissen um und schließt entschlossen die Augen. Hundert, neunundneunzig, achtundneunzig, siebenundneunzig, wie viele Feuerstein-Minen gibt es eigentlich in Norfolk, hoffentlich vergisst David nicht, Flint zu füttern, und hoffentlich fängt Flint nicht irgendwelche seltenen Sumpfvögel … Sparkys Leiche in ihrem leichten Pappsarg … Scarlets Arm, der unter der Plane hervorbaumelt … sechsundneunzig, fünfundneunzig …
Wir, die lebendig warn, sind nun am Sterben
… vierundneunzig, dreiundneunzig … er wird seine Frau doch nie verlassen … warum ist Peter wieder da, warum kann Shona diesen Liam nicht einfach vergessen, ob Cathbad
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