Totenpfad
begreift sie, wie unsinnig es war zu glauben, dass sie auch nur irgendwo Ruhe haben wird. Nicht einmal hier.
«Ja, ich habe sie gefunden. Sie lag im Torf begraben, mitten im Henge-Ring.»
«Du lieber Himmel.» Shona war bei der Ausgrabung vor zehn Jahren ebenfalls dabei, sie kennt die Bedeutung des Ortes, ist sich bewusst, dass der Boden dort von vielen als heilig erachtet wird.
«Weiß Erik, wo man sie gefunden hat?» Sie setzt sich.
«Ja. Und mir scheint, ihm macht am meisten zu schaffen, dass die Polizei jetzt an seiner Ausgrabungsstätte gräbt. Den Kontext verunreinigt.» Ruth ist selbst überrascht, wie viel Bitterkeit in ihrer Stimme liegt.
«Warum graben sie denn noch weiter?»
«Weil sie glauben, dass das andere Mädchen vielleicht auch dort verscharrt wurde. Lucy Downey.»
«Ist das die Kleine, die vor einer Ewigkeit verschwunden ist?»
«Vor zehn Jahren. Kurz nach der Henge-Grabung.»
«Und die Polizei glaubt, dass beide vom selben Täter ermordet wurden?»
Ruth mustert Shona. Ihre Miene ist sanft und betroffen, doch irgendwo entdeckt Ruth auch eine Spur der leicht verschämten Neugier, die sie nur zu gut von sich selber kennt.
«Ich weiß es nicht», sagt sie. «Ich weiß nicht, was die Polizei glaubt.»
«Wird denn Anklage gegen diesen Druiden erhoben?»
«Cathbad? Tut mir leid, Shona, ich habe wirklich keine Ahnung.»
«Erik sagt, er ist unschuldig.»
«Ja», sagt Ruth. Sie fragt sich, was Erik Shona noch alles erzählt hat.
Shona lässt nicht locker. «Was glaubst du denn?»
«Ich weiß es nicht», wiederholt Ruth, und es kommt ihr vor, als hätte sie das schon hundertmal gesagt. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ein Mörder ist. Er hat immer so harmlos gewirkt, sich nur für Frieden und Natur und das alles interessiert. Aber irgendwelche Beweise muss die Polizei schon haben, sonst könnten sie ihn nicht festhalten.»
«Dieser Detective Nelson scheint ja ein richtig erbarmungsloser Mistkerl zu sein.»
Für einen Moment denkt Ruth an Nelson. Sieht sein Gesicht über sich, spürt seine Bartstoppeln an der Wange.
«So gut kenne ich ihn auch wieder nicht», sagt sie. «Hör mal, Shona, kann ich dich um einen Gefallen bitten? Könnte ich vielleicht ein paar Tage bei dir wohnen?Die Presse hat mitbekommen, dass ich mit dem Fall zu tun habe. Ich fürchte, sie werden versuchen, mich zu Hause zu erwischen, deshalb muss ich ein Weilchen untertauchen.»
«Klar doch.» Shona zögert keine Sekunde. «Du bist mir jederzeit willkommen. Weißt du was? Heute Abend holen wir uns was vom Chinesen und eine schöne Flasche Wein und machen uns einen richtigen Frauenabend. Einfach alles vergessen und entspannen. Was hältst du davon?»
Ruth weiß selbst nicht recht, warum, doch sie kann den Frauenabend längst nicht so genießen, wie sie gehofft hat. Sie ist völlig erschöpft, und nach ein paar Gläsern Pinot grigio fallen ihr fast die Augen zu. Außerdem hat sie einfach keinen Appetit, vielleicht zum ersten Mal in ihrem ganzen Erwachsenenleben. Normalerweise liebt sie chinesisches Essen: die dünnen, silbrigen Kartons, das wunderbar fettige Essen und das eine seltsame Gericht, von dem man nie recht weiß, ob man es wirklich bestellt hat. Sonst findet sie das alles wunderbar, doch an diesem Abend schiebt sie nach ein paar Bissen knuspriggebratener Ente den Teller von sich, und ihr wird fast übel vom Geruch der Sojasauce.
«Was ist denn?», fragt Shona mit vollem Mund. «Hau rein, es gibt mehr als genug.»
«Tut mir leid», sagt Ruth. «Ich bin einfach nicht besonders hungrig.»
«Aber du musst doch etwas essen.» Shona hört sich an, als wäre Ruth ein magersüchtiges Schulmädchen und keine Enddreißigerin mit Übergewicht. «Trink wenigstens noch was.» Sie gießt Ruth Wein ins Glas. «Na komm, entspann dich.»
Shona bewohnt ein Reihenhaus am Stadtrand von King’s Lynn. Es ist gar nicht weit bis zum Zentrum, einesehr städtische Umgebung und damit das genaue Gegenteil des Salzmoors. Eine Zeitlang ist Ruth einfach draußen in dem winzigen Vorgarten stehen geblieben, hat dem Verkehrslärm gelauscht und den Duft nach Knoblauch und Kreuzkümmel eingesogen, der vom benachbarten indischen Schnellimbiss herüberweht. «Komm wieder rein», hat Shona zu ihr gesagt. «Wenn du zu lange draußen stehst, legen sie dir noch eine Parkkralle an. Parken ist hier die reinste Katastrophe.»
Und Ruth hat gehorcht und sich häuslich in Shonas Gästezimmer eingerichtet: Hochglanzparkett, ein Bett aus
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