Totenpfad
Delilah wohl immer noch liebt … warum liegen die Eisenzeitleichen auf einer Geraden, warum führt diese Gerade direkt zu Scarlet … zweiundneunzig, einundneunzig …
Das Piepsen des Handys ist eine willkommene Ablenkung,und Ruth greift dankbar danach. Sie hat eine SMS bekommen. Das kleine Display leuchtet grünlich im Dunkeln. Eine unbekannte Rufnummer.
ICH WEISS, WO DU BIST.
Der Himmel ist voller Geräusche. Ein Klopfen und ein Knistern, das klingt wie die Schreie und Rufe großer Vögel. Sie weiß, dass es Tag sein muss, weil das Fenster verschlossen ist. Deshalb sieht sie auch nichts, hört nur die Geräusche. Das macht ihr Angst, und sie verkriecht sich in einer Ecke, zieht sich die Decke über den Kopf.
Lange Zeit bleibt er fort, und sie hat Hunger und so große Angst wie nie zuvor. Sie hat ihr Wasser ausgetrunken, tastet im Dunkeln nach dem Stück Brot, das ihr vor ein paar Tagen heruntergefallen ist. Ob sie wohl sterben wird, wenn er nicht mehr kommt, um ihr Essen zu bringen? Vielleicht ist er ja tot.
Er bleibt lange Zeit fort, ihr Mund ist trocken, und der Eimer in der Ecke fängt an zu stinken.
Langsam schiebt sie sich durch den Raum, auf der Suche nach dem Brot. Durch die Ritzen der Falltür fällt Licht herein. Sie möchte rufen, traut sich aber nicht. Die steinernen Wände sind feucht und moosig und glatt, wenn sie mit den Händen daran entlangstreicht. Sie reicht jetzt höher hinauf, fast bis an den trockenen Mauerteil ganz oben, wo die Steine bröckelig sind wie Brotkrumen. Warum kommt sie jetzt bis dort hinauf? Ist sie größer geworden? Er sagt das immer. Zu groß, sagt er. Was er wohl damit meint? Zu groß wofür?
Sie reckt sich so weit hinauf, wie sie kann, und zieht an einem Stein. Er löst sich, und das überrascht sie so, dass sie hintenüberfällt. Sie bleibt am Boden sitzen und befühlt mit dem Daumen die Kante des Steins. Es ist eine scharfe Kante, sie schneidet sich. Sie leckt das Blut ab; es schmeckt ein bisschen so wie die Metalltasse,
aus der sie immer trinkt, aber auch salzig, seltsam, stark. Sie leckt weiter, bis es aufhört zu bluten.
Dann nimmt sie den Stein mit in die Ecke des Zimmers, wo es Erde gibt und keinen Boden. Dort gräbt sie ein Loch, legt den Stein ganz vorsichtig hinein und bedeckt ihn wieder mit Erde. Sie tritt alles fest, bis die Erde wieder ganz glatt ist und niemand außer ihr ahnen würde, dass dort etwas vergraben liegt.
Zum ersten Mal hat sie ein Geheimnis. Es schmeckt köstlich.
18
Um zwei Uhr morgens schläft Ruth vor lauter Erschöpfung schließlich doch noch ein. Eine Ewigkeit hat sie einfach nur im Bett gesessen, ihrem hämmernden Herzen gelauscht und auf die SMS gestarrt. Diese wenigen, markerschütternden Worte. Wer kann sie ihr geschickt haben? War ER es? Der Briefschreiber? Der Mörder? Wer weiß denn überhaupt, wo sie ist? Und wer hat ihre Handynummer? Muss es – ihr Magen krampft sich zusammen, dass ihr fast übel wird –, muss es dann nicht jemand sein, den sie kennt?
Sie weiß, dass sie Nelson anrufen sollte, doch irgendwie will sie das nicht mitten in der Nacht tun. Der Abend zuvor hat alles kompliziert gemacht. Sie will nicht, dass Nelson sich von ihr bedrängt fühlt. Was ist wichtiger, ruft sie sich streng zur Ordnung, Gefahr zu laufen, im Schlaf ermordet zu werden, oder sicherzugehen, dass ein Mann nicht auf falsche Gedanken kommt? Warum kann ihr Unterbewusstsein nicht ein bisschen emanzipierter denken?
Schließlich schläft sie ein und wacht einige Zeit später auf, immer noch im Sitzen und verspannt am ganzen Körper. Das Handy ist zu Boden gefallen; ihre Hand zittert, als sie es aufhebt. Keine weiteren Nachrichten. Seufzend rollt Ruth sich im Bett zusammen. So müde, wie sie im Moment ist, erscheint ihr der Tod gar keine schlechte Option: einfach einschlafen und nie mehr aufwachen.
Als sie das nächste Mal wach wird, fällt gelbliches Tageslicht durchs Fenster, und Shona steht mit einer Tasse Tee an ihrem Bett.
«Du scheinst ja gut geschlafen zu haben», ruft sie fröhlich. «Es ist schon nach neun.»
Ruth trinkt dankbar ihren Tee. Es ist Ewigkeiten her, dass ihr jemand einen Tee ans Bett gebracht hat. Jetzt, am hellen Tag, in Shonas sonnigem, hübsch möbliertem Gästezimmer, hat sie auch nicht mehr das Gefühl, dass ihr ein gewaltsamer Tod drohen könnte. Genau genommen fühlt sie sich sogar recht kampflustig. Sie steht auf, duscht und entscheidet sich für ein möglichst strenges, kompromissloses Outfit:
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