Totenpfad
schweigend zu, wie die Wagen des Bestattungsunternehmens vor der Kirche vorfahren. Auch Nelson steigt in einen Wagen. Er dreht sich nicht nach ihnen um.
«Sehen Sie die beiden da drüben?» Judy deutet auf ein grauhaariges Paar, das sich langsam entfernt. «Das sind die Eltern von Lucy Downey. Sie kennen den Fall ja bestimmt?»
«Ich habe davon gehört, ja. Woher kennen sie denn die Hendersons?»
«Als Scarlet verschwunden war, hat Mrs. Downey sich mit Delilah Henderson in Verbindung gesetzt, um ihr Unterstützunganzubieten. Die beiden sind ganz reizende Menschen. Was es ja eigentlich nur noch schlimmer macht.»
Ruth betrachtet das Paar, das an den regennassen Autos vorbeigeht. Lucy Downeys Mutter wirkt ältlich, sie hat graues Haar und geht bereits gebeugt. Ihr Mann ist rüstiger, er hat den Arm um sie gelegt, als wäre er es gewöhnt, sie zu beschützen. Wie muss es für sie sein, diese Trauerfeier mitzuerleben, wo sie sich doch selbst nie von ihrer Tochter verabschieden konnten? Hoffen sie irgendwo tief im Herzen immer noch darauf, dass Lucy am Leben ist?
«Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?», fragt Judy.
Ruth sieht sie an und denkt an die Fahrt zurück zu Shonas Haus, an Shona und ihre immer leicht neugierige Fürsorglichkeit, an eine weitere Nacht in dem geschmackvoll möblierten Gästezimmer.
«Nein, vielen Dank», sagt sie. «Ich bin selbst mit dem Wagen da. Ich fahre gleich zurück nach Hause.»
Und genau das tut sie auch. Sie fährt auf direktem Weg zurück zur New Road. Natürlich ist ihr klar, dass sie noch einmal bei Shona vorbeifahren muss, um ihre Sachen zu holen, doch im Augenblick will sie einfach nur nach Hause. Das Sumpfland erstreckt sich grau und trostlos unter tiefhängenden Wolken, doch Ruth ist grundlos glücklich darüber, wieder hier zu sein. Sie parkt auf ihrem gewohnten Platz gleich vor dem kaputten Zaun, schließt die Haustür auf und ruft fröhlich nach Flint, der offenbar schon auf sie gewartet hat, denn er kommt sofort aus der Küche gerannt. Er sieht ein bisschen zerzaust und mitgenommen aus. Ruth nimmt ihn auf den Arm und drückt ihre Nase in sein Fell, das so wunderbar nach draußen riecht.
Das Haus ist so, wie sie es verlassen hat. David hat ihren Briefkasten geleert und die Post fein säuberlich auf dem Tisch gestapelt. Und offenbar hat er auch nicht vergessen,Flint zu füttern, denn der Kater macht insgesamt einen guten Eindruck. Die leere Weinflasche steht noch auf dem Tisch, gleich neben Nelsons halb ausgetrunkener Kaffeetasse. Und auch die Sofakissen liegen noch auf dem Boden. Ruth wird ein bisschen rot, als sie sie aufhebt und wieder zurechtschüttelt.
Die Post enthält nichts Aufregendes: Rechnungen, Mahnungen für überfällige Bibliotheksbücher, das Programm einer Theatergruppe aus der Gegend, von der Ruth vor sechs Jahren einmal ein Stück gesehen hat, Spendenaufrufe und eine Postkarte von einer Freundin aus New York. Ruth lässt die meisten Umschläge zu und geht in die Küche, um sich einen Tee zu machen. Flint springt maunzend auf die Arbeitsfläche. Offenbar hat er sich schlechte Gewohnheiten zugelegt. Ruth setzt ihn zurück auf den Boden, doch er springt gleich wieder hoch.
«Was soll denn der Blödsinn, du dummer Kater?»
«Katzen sind nicht dumm», sagt eine Stimme hinter ihr. «Sie haben hochentwickelte okkulte Fähigkeiten.»
Ruth zuckt zusammen und fährt herum. In der Küchentür steht, lächelnd und ganz entspannt, ein Mann in Jeans, Armeejacke und einem schmutzigen lila Umhang.
Cathbad.
Ruth weicht vor ihm zurück. «Wie sind Sie denn hier hereingekommen?», fragt sie.
«Ich bin dem Mann gefolgt, der die Katze gefüttert hat. Er hat mich nicht bemerkt. Ich kann mich nämlich unsichtbar machen, wissen Sie? Ich habe das Haus ein Weilchen beobachtet, weil ich sicher war, dass Sie irgendwann wiederkommen. Sie kommen einfach nicht los von dieser Gegend, stimmt’s?»
Die Bemerkung verstört Ruth so sehr, dass sie sich zunächst kaum rühren kann. Sie steht einfach nur da und starrt ihn an. Cathbad hat ihr Haus beobachtet, und er hatganz richtig geschlossen, dass das Salzmoor ein wichtiger Ort für sie ist. Was er wohl sonst noch alles weiß?
«Was wollen Sie?», bringt sie schließlich heraus und bemüht sich dabei redlich, gefasst zu klingen.
«Ich möchte mit Ihnen reden. Haben Sie vielleicht auch Kräutertee?» Er deutet auf ihre Tasse. «Koffein ist reines Gift.»
«Ich mache Ihnen ganz bestimmt keinen Tee.» Ruth merkt, dass sie
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