Totenpfad
dabei die Hände. Vermutlich ist er schon seit Stunden auf den Beinen. Ruth erinnert sich, dass es bei Ausgrabungen zu seinen Ritualen gehört, die Sonne am ersten Tag auf- und am letzten Tag untergehen zu sehen.
«Doch», sagt er jetzt so beiläufig wie möglich. «Nelson meinte, wir sollten bis nach der Beerdigung warten, und die war ja gestern, soviel ich weiß.»
«Stimmt. Ich war dort.»
«Tatsächlich?» Erik sieht sie erstaunt an. «Warum das denn?»
«Ich weiß auch nicht», sagt Ruth, während sie Wasser aufsetzt. «Irgendwie fühle ich mich beteiligt.»
«Das bist du aber nicht», sagt Erik knapp und nimmt seinen Südwester ab. «Es wird höchste Zeit, dass du mit dem Detektivspielen aufhörst und dich wieder auf die Archäologie konzentrierst. Darin bist du schließlich gut. Sehr gut sogar. Eine meiner besten Schülerinnen.»
Ruth, die anfangs schon zornig werden wollte, spürt, wie sich ihre Laune wieder bessert. Trotzdem kann sie ihm das unmöglich durchgehen lassen.
«Aber Archäologen sind doch Detektive», sagt sie. «Das hast du selbst immer gesagt.»
Erik zuckt gleichgültig mit den Schultern. «Das hier ist aber etwas anderes, Ruthie, das muss dir doch auch klar sein. Du hast die Polizei von deinem Expertenwissen profitieren lassen, jetzt muss es dann aber auch wieder gut sein. Es besteht kein Anlass, sich so in die Sache zu verbeißen.»
«Das tue ich doch gar nicht.»
«Ach nein?» Erik setzt ein enervierend wissendes Lächeln auf, das Ruth an Cathbad erinnert. Ob die beiden wohl über sie gesprochen haben?
«Nein», sagt sie knapp und wendet sich ab, um den Kaffee aufzugießen. Sie schiebt auch ein paar Scheiben Brot in den Toaster. Auf keinen Fall wird sie mit leerem Magen zu dieser Ausgrabung gehen.
«Die arme Kleine ist tot», sagt Erik sanft, und sein norwegischer Akzent hat etwas Einlullendes. «Sie ist begraben, sie hat ihren Frieden. Lass es doch einfach dabei.»
Ruth dreht sich zu ihm um. Erik sitzt am Fenster und lächelt zu ihr herüber. Sonnenstrahlen schimmern auf seinem schneeweißen Haar. Er wirkt wie der Inbegriff von Wohlwollen und Güte.
«Ich gehe mich anziehen», sagt sie. «Du kannst dir eine Tasse nehmen, wenn der Kaffee fertig ist.»
Als Ruth das Salzmoor erreicht, ist die Ausgrabung bereits in vollem Gange. Mit Hilfe von Schnüren und Pflöcken sind drei Gräben abgeteilt worden, einer am Fundort der ersten Eisenzeitleiche, zwei weitere entlang des Dammwegs. Die Archäologen und ihre freiwilligen Helfer sind damit beschäftigt, die oberste Bodenschicht in gleich großen Soden abzutragen. Wenn die Grabungen beendet sind, werden sie Gras und Boden so weit wie möglich wieder in den ursprünglichen Zustand versetzen.
Ruth weiß noch von der Henge-Grabung, wie kompliziert diese sumpfige Umgebung eine Ausgrabung macht. Der dritte Graben, der sich jenseits der Gezeitenlinie befindet, wird jeden Abend voll Wasser laufen, was im Klartext heißt, dass man ihn täglich neu ausheben muss. Außerdem kann man jederzeit von der Flut überrascht werden. Erik hatte damals immer jemanden zur «Gezeitenwache» abgestellt. Oft setzt die Flut ganz langsam ein, kriecht lautlos über das flache Land heran, aber manchmal verwandelt sich der Boden unter den Füßen auch so schnell in Wasser, dass man kaum noch Zeit zum Luftholen hat. Diese sogenannten Ripptiden können einem im Handumdrehen jeden Zugang zum Festland abschneiden.
Und selbst die Gräben auf festerem Untergrund stellen die Archäologen vor Schwierigkeiten. Erik hat das Gebiet zwar kartographisch erfasst, doch das Land ist ständig in Bewegung, und so kann sich alles über Nacht verschieben. Und Archäologen werden schnell einmal nervös, wenn sie sich nicht auf ihre Koordinaten verlassen können.
Ruth trifft Erik beim dritten Graben an, der wegen des tückischen Untergrunds nur schmal ist und mit Sandsäcken verstärkt wird. Im Graben stehen zwei Männer undschauen skeptisch zu Erik empor. Einer von ihnen ist Bob Bullmore, der forensische Anthropologe.
Ruth hockt sich neben Erik, der gerade einen der Pfähle begutachtet.
«Willst du ihn entfernen lassen?», fragt sie.
Erik schüttelt den Kopf. «Nein, er soll bleiben, wo er ist. Ich befürchte allerdings, dass die Wellen ihn lockern könnten, wenn wir zu tief graben.»
«Aber du musst doch die Basis begutachten.»
«Sicher, soweit das möglich ist. Aber schau dir das Holz mal an. Sieht aus, als wäre es zersägt worden.»
Ruth betrachtet den Pfahl. Die
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