Totenpfad
so anzufahren. Sie will ja nur helfen, hat Ruth sogar angeboten, sie zu der Beisetzung zu begleiten. Doch Ruth will lieber allein gehen. Das glaubt sie Scarlet schuldig zu sein, dem kleinen Mädchen, das sie nur tot kennt. Und Delilah und Alan. Und Nelson? Ja, vielleicht auch ihm. Seit Tagen hat sie nicht mehr mit ihm gesprochen. Cathbads Entlassung war das große Thema sämtlicher Nachrichtensendungen, und Nelson hat mit steinerner Miene verkündet, dass sie jetzt neuen Spuren nachgingen. Ruth vermutet, dass das nicht der Wahrheit entspricht – und ein Großteil der Presse scheint diese Vermutung zu teilen.
Die Kirche, ein viereckiges, modernes Gebäude in der Nähe von Spenwell, ist voller Menschen. Ruth sucht sich einen Platz ganz hinten, wo sie sich als Letzte in eine Kirchenbank zwängt. Weiter vorn entdeckt sie Nelson. Er trägt einen dunkelgrauen Anzug und blickt starr geradeaus. Rechts und links neben ihm sitzen weitere bullige Gestalten – wahrscheinlich auch Polizisten. Es ist auch eine Polizistin mit dabei. Ruth beobachtet, wie sie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch sucht, und fragt sich, ob das wohl Judy ist, die Nelson dabei unterstützt hat, Scarlets Eltern die furchtbare Nachricht zu überbringen.
Dann wird der kleine Sarg hereingebracht, daneben gehen Delilah und Alan, die beide wie betäubt wirken. Die Chrysanthemenblüten, die den Namen «Scarlet» bilden, die verschüchterten Geschwister in ihren dunklen Kleidern mit weitaufgerissenen Augen, die schwachen Stimmen, die «All Things Bright and Beautiful» singen – dasalles scheint wie dafür gemacht, einem das Herz zu brechen. Ruth spürt die Tränen in den Augen, erlaubt ihnen aber nicht zu fließen. Welches Recht hat sie, um Scarlet zu weinen?
Der Pfarrer, ein sichtlich nervöser Mann im weißen Talar, sagt ein paar tröstliche Sätze über Engel, Unschuld und das Sitzen zur Rechten Gottes. Dann steht zu Ruths großer Überraschung Nelson auf, um die Lesung zu übernehmen. Er liest nicht besonders gut, verhaspelt sich häufig und hebt nie die Augen vom Text.
«Jesus erwiderte ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben.» Ruth fühlt sich auf unangenehme Weise an die Briefe erinnert. Der Verfasser der Lucy-Downey-Briefe hätte sicher seine Freude an diesem Bibelzitat, das alle seine Lieblingsthemen enthält: Leben, Tod, die Gewissheit auf Auferstehung und eine hübsche Dosis Mystik noch dazu. Ob Cathbad die Briefe geschrieben hat? Und falls ja: Warum? Wollte er die Polizei in ihrer Arbeit behindern? Ruth weiß, dass Cathbad Polizisten verabscheut (und Archäologen im Übrigen auch) – aber ist das wirklich schon Grund genug? Wo ist Cathbad jetzt? Wäre er gern gekommen, um die Frau zu trösten, die er einmal geliebt hat, und seine Tochter, Delilahs Älteste, die jetzt tonlos in das Haar ihrer Mutter schluchzt?
Dann ist es endlich vorbei, und der kleine weiße Sarg wird so dicht an ihr vorbeigetragen, dass Ruth ihn fast berühren kann. Wieder sieht sie den herabbaumelnden Arm vor sich und bildet sich fast ein, dass er sich ihr aus dem Sarg entgegenstreckt und sie um Hilfe anfleht. Sie schließt die Augen, und das Bild verschwindet. Das letzte Kirchenlied wird gespielt, alle erheben sich von ihren Plätzen.
Draußen hat es aufgehört zu regnen, die Luft ist kühl und klamm. Die Familie fährt mit dem Sarg davon, um Scarlet im engsten Kreis einäschern zu lassen. Von den verbliebenen Trauergästen fällt die Anspannung sichtlich ab: Sie plaudern, ziehen ihre Mäntel über, der eine oder andere zündet sich eine Zigarette an.
Ruth steht plötzlich neben der jungen Polizistin, die ein hübsches, sommersprossiges Gesicht hat und rotgeweinte Augen.
Sie stellt sich ihr vor, und die Miene der jungen Frau hellt sich auf, als Ruth ihren Namen sagt. «Ach, von Ihnen habe ich schon gehört. Der Boss spricht ja viel von Ihnen. Ich bin Judy Johnson, Detective Constable Judy Johnson.»
«Sie haben die …» Ruth bricht ab, weil sie nicht recht weiß, wie sie es formulieren soll.
«Die Nachricht überbracht. Ja. Ich habe die entsprechende Ausbildung, und sie haben immer gern eine Frau dabei, vor allem, wenn es um Kinder geht.»
«Nelson … DCI Nelson sagte, Sie hätten das sehr gut gemacht.»
«Das ist freundlich von ihm, aber in solchen Fällen kann man ja eigentlich gar nichts tun.»
Einen Moment lang sehen sie
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