Totenpfad
steht auf dem Schild.
Bed & Breakfast, Zimmer mit Bad & Farbfernseher, gutbürgerliche Küche. Zimmer frei.
Im zweiten Wagen sinkt Ruth immer mehr in sich zusammen. Was wird Erik denken, wenn er in den Wagen schautund sie dort sitzen sieht? Wird ihm klar sein, dass sie ihn verraten hat? Denn trotz allem hat sie noch das Gefühl, sich des Verrats schuldig gemacht zu haben. Sie hat Erik an Nelson ausgeliefert. Sie kommt sich vor wie ein Judas.
Es ist bereits kurz vor zehn, und in der Pension brennt nur noch ein Licht, oben, gleich über der Eingangstür. Ruth erinnert sich, dass Erik ihr erzählt hat, er sei der einzige Gast – im Februar herrscht nicht gerade Hochsaison. Ist das also seine Lampe? Sitzt er dort drinnen und arbeitet seelenruhig an einem wissenschaftlichen Aufsatz über Ackersysteme in der Bronzezeit?
Ruth sieht, wie die Eingangstür aufgeht, wie Nelson sich vorbeugt und mit dem unsichtbaren Menschen spricht, der ihm geöffnet hat. Vermutlich wird er jetzt seinen Polizeiausweis zücken, so wie im Film, und anschließend mit den Worten: «Polizei! Keine Bewegung!» das Haus stürmen. Doch Ruths Erwartungen werden enttäuscht. Die Tür schließt sich wieder, und Nelson und Clough kommen langsam zu den Wagen zurück.
Nelson beugt sich durchs Beifahrerfenster herein. Sein Unterarm ruht auf dem Rahmen, nur wenige Zentimeter von Ruth entfernt, und sie muss dem dummen Impuls widerstehen, ihn zu berühren.
«Er ist weg», sagt Nelson.
«Geflüchtet?» Judy dreht sich auf dem Fahrersitz zu ihm um.
«Sieht so aus. Sein Zimmer ist leer, und er hat einen Scheck dagelassen, um die Rechnung zu begleichen.»
Einen Moment lang ist Ruth seltsam erleichtert, dass Erik nicht einfach getürmt ist, ohne zu bezahlen. Dann denkt sie: Er ist möglicherweise ein Mörder – das ist ja wohl ein bisschen schlimmer, als seine Hotelrechnung nicht zu begleichen.
«Und jetzt?», fragt Judy.
Nelson sieht Ruth an. «Was meinen Sie dazu, Doktor Galloway?»
Ruth weicht seinem Blick aus. «Vielleicht ist er ja bei Shona.»
Bei Shona ist alles dunkel. Anfangs vermutet Ruth, dass sie unterwegs ist (womöglich mit Erik?), doch nach ein paar Minuten öffnet Shona im Morgenmantel die Tür. Sie wirkt etwas zerzaust, und Ruth sieht selbst auf diese Entfernung, dass sie leicht angetrunken ist.
Diesmal haben sie Judy geschickt. Vielleicht gehört auch das zu den Aufgaben, die man lieber Frauen überlässt, so wie das Überbringen schlechter Nachrichten. Die Polizei scheint in dieser Hinsicht kaum fortschrittlicher zu sein als die Neandertaler.
Shona tritt beiseite, um Judy ins Haus zu lassen. Ruth bleibt allein im Auto sitzen und zittert plötzlich vor Kälte. Als sich die Beifahrertür öffnet, zuckt sie zusammen. Nelson beugt sich zu ihr herein.
«Alles klar?»
«Alles bestens», sagt sie und spannt die Kiefermuskeln an, damit ihre Zähne nicht zu sehr klappern.
«Du bist ja ganz durchgefroren. Warte mal.»
Er zieht seine schwere Polizeijacke aus und gibt sie ihr. «Hier, zieh die über.»
«Aber das ist doch deine.»
Er zuckt die Achseln. «Mir ist nicht kalt. Behalt sie ruhig.»
Ruth schlüpft dankbar in die Jacke. Sie riecht nach Autowerkstatt und ganz leicht nach Nelsons Rasierwasser. Und er scheint in seinen Hemdsärmeln tatsächlich nicht zu frieren. Er tritt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und wartet darauf, dass Judy zurückkommt. Ruth denkt an ihre erste Begegnung, als Nelson den Hang praktisch hochgerannt ist, um zu den vergrabenen Knochen zu gelangen.
Schließlich kommt Judy wieder nach draußen, und Nelson geht ihr entgegen. Sie wechseln ein paar Worte, dann steigt Judy wieder in den Wagen.
«Er ist nicht bei ihr», erzählt sie. «Und angeblich hat sie ihn auch nicht gesehen. Ich gebe eine Fahndungsmeldung an alle Einheiten heraus. Der Boss sagt, ich soll Sie an einen sicheren Ort bringen.»
Ruth sieht zu, wie Nelson in den anderen Wagen steigt. Erst gibt er mir seine Jacke, denkt sie, und dann kann er sich nicht mal von mir verabschieden. Mit einem Mal ist sie ungeheuer müde.
«Gibt es irgendwen, bei dem Sie bleiben können?», fragt Judy.
Ruth schaut zu Shonas Haus hinüber. Das Licht ist wieder aus. Dort wird sie wohl so schnell keinen weiteren Frauenabend verbringen.
«Vielleicht eine Freundin?», drängt Judy. «Oder Verwandte?»
«Es gäbe da schon jemanden», sagt Ruth.
Das Haus gehört zu einer Reihe von Fischerhäuschen an der Küste bei Burnham Ovary. Es ist quadratisch und weiß
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