Totenpfad
«Täterprofil», wie Whitcliffe das vermutlich nennen würde. Er hat Verbindungen zur Familie Henderson, führt ein Gammlerleben und redet diesen ganzen Esoterik-Quatsch,genau wie der Briefschreiber. Doch dann haben sie Scarlets Leiche gefunden, und sie war voller DN A-Spuren , nur war leider keine von Malone dabei. Und ohne DN A-Entsprechung saß Nelson auf dem Trockenen. Er musste Malone gehen lassen und kann ihm jetzt allenfalls anlasten, dass er seine Zeit verschwendet hat.
Scarlet ist gefesselt, geknebelt und erwürgt worden. Danach hat jemand ihre Leiche bis dorthin getragen, wo der Boden torfig wird, und sie genau an der Stelle verscharrt, wo dieses Henge-Dings gestanden hat. Muss das heißen, dass der Mörder über den Henge Bescheid weiß? Ruth sagte, es gebe einen Pfad, einen Dammweg oder so ähnlich, der direkt zu der Stelle führt, wo Scarlet begraben lag. Sollte die Polizei sie also finden? Hat der Mörder sie vielleicht die ganze Zeit beobachtet und sich ins Fäustchen gelacht? Ein Mörder stammt häufig aus dem Umfeld der Familie des Opfers, steht ihr nahe. Aber wie nahe? Hat der Mörder Ruth die beiden SMS geschickt? Beobachtet er auch sie? Nelson erschauert unwillkürlich. Es ist schon spät, auf dem Revier ist kaum jemand mehr.
Wenn sie Scarlets Mörder nicht finden, wird man ihm die Schuld daran geben, so viel steht fest. Und es steht ebenso fest, dass es nicht mehr lange dauern kann, bis die Presse eine Verbindung zu Lucy Downey herstellen wird. Natürlich weiß niemand von den Briefen, und falls das je rauskommen sollte, ist die Kacke richtig am Dampfen. Aber letztlich ist ihm das alles gleichgültig. Er kann Reporter nicht ausstehen – auch ein Grund, weshalb er es Michelles Träumereien zum Trotz nie zum Polizeipräsidenten bringen wird. Und er weiß schließlich, dass er sein Bestes getan hat. Er will den Mörder vor allem finden, weil es ihm um Lucys und Scarlets Eltern geht. Er will dieses Schwein für immer hinter Gitter bringen. Das macht Lucy und Scarlet zwar auch nicht wieder lebendig, aber zumindesthat dann die Gerechtigkeit gesiegt. Das Wort klingt ihm so gewaltig und alttestamentarisch in den Ohren, dass es ihn selbst überrascht, doch letztlich geht es bei der Polizeiarbeit doch genau darum: die Unschuldigen zu schützen und die Schuldigen zu strafen. Sankt Harry, der Rächer.
Draußen vor der Tür sind plötzlich Stimmen zu hören. Der diensthabende Polizist scheint jemandem Vorhaltungen zu machen. Ob er mal nach dem Rechten sehen soll? Nelson steht auf und geht zur Tür – und stößt dort mit seiner Sachverständigen zusammen: Doktor Ruth Galloway.
«Meine Güte», ruft er und streckt beide Hände aus, um sie zu stützen.
«Mir ist nichts passiert.» Ruth weicht zurück, als hätte er eine ansteckende Krankheit. Einen Augenblick lang mustern sie einander betreten. Ruth sieht furchtbar aus, ihr Haar ist zerzaust, sie hat den Mantel verkehrt herum an. Oje, denkt Nelson, am Ende ist sie doch so eine Durchgeknallte, wie Glenn Close in
Eine verhängnisvolle Affäre
.
«Entschuldige», sagt sie, während sie sich aus ihrem tropfnassen Mantel schält, «aber ich musste einfach kommen.»
«Was ist denn los?», fragt Nelson möglichst neutral und zieht sich wieder hinter seinen Schreibtisch zurück.
Statt einer Antwort knallt Ruth ihm ein Buch und ein Blatt Papier auf den Schreibtisch. Das Blatt, das sieht Nelson sofort, ist die Kopie von einem der Lucy-Downey-Briefe. Das Buch sagt ihm nichts, doch Ruth hat es aufgeschlagen und deutet auf die handschriftliche Widmung auf der ersten Seite.
«Sieh mal!», sagt sie eindringlich.
Um des lieben Friedens willen liest er die Widmung. Und liest sie dann noch einmal.
«Wer hat das geschrieben?», fragt er leise.
«Erik. Erik Anderssen.»
«Bist du da sicher?»
«Natürlich bin ich sicher. Außerdem hat seine Freundin es bestätigt: Er hat die Briefe geschrieben.»
«Seine Freundin?»
«Shona. Meine … eine Kollegin von der Uni. Sie ist seine Freundin. Oder seine Ex-Freundin, wie man’s nimmt. Jedenfalls hat sie zugegeben, dass er die Briefe geschrieben und sie ihm dabei geholfen hat.»
«Mein Gott. Aber warum?»
«Weil er dich hasst. Wegen James Agar.»
«James Agar?»
«Du weißt schon, der Student, der des Polizistenmordes beschuldigt wurde.»
Nelson hat alles Mögliche erwartet, aber nicht das. James Agar. Die Ausschreitungen wegen der Kopfsteuer, die Polizisten, die aus fünf verschiedenen Bezirken herangekarrt
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