Totenprinz - Westendorf, C: Totenprinz
ihr sofort das geräumige Bett mit der sorgfältig darauf ausgebreiteten, rosengeblümten Tagesdecke auf.
»Das sieht mir aber nicht gerade nach einer provisorischen Übernachtungsmöglichkeit aus, Weber. Das ist alles andere als ein Notlager, das Monika Jacobsen nur ab und zu genutzt hat. Nein, vielmehr glaube ich, dass wir hier den ständigen Schlafplatz einer Frau mit einem Hang zu romantischen Details vor uns haben«, meinte sie, während sie über die rosafarbene, satinbezogene Nackenrolle strich, die am Kopfende des Bettes lag.
»Möglich«, murmelte Weber und startete den auf einem zierlichen, antiken Sekretär aus lackiertem Kirschbaumholz stehenden Laptop.
Anna untersuchte unterdessen den neben dem Bett stehenden Nachttisch. Im seinem obersten Schubfach lagen ein paar pflanzliche Medikamente gegen Schlafstörungen sowie ein Nasenspray, eine Packung Papiertaschentücher und ein Lippenpflegestift. In der darunterliegenden Schublade befanden sich ein paar zerfledderte Taschenbücher. Es waren Romane mit Titeln wie »Mein
Herz gehört Dir« oder »Der geheimnisvolle Fremde«. Man brauchte die jeweiligen Buchanfänge nur kurz zu überfliegen, um zu wissen, dass es hier um romantisch verklärte Liebesgeschichten ging. Um Geschichten, die von einem Prinzen auf dem weißen Pferd handelten, der seine Liebste nach vielen Verwicklungen von ihrem freudlosen Dasein erlöste. Was für ein grauenvoller Mist, dachte Anna, während sie die Schublade wieder schloss, um sich anschließend an die Untersuchung des Kleiderschranks zu machen.
»Und am Ende reiten die beiden zusammen in den Sonnenuntergang hinein«, meinte Anna kopfschüttelnd und erntete für diese Bemerkung einen fragenden Blick von Weber.
»Eine Frau, die Western liest? Charmante Vorstellung.«
»Blödsinn, Weber. Wie ist es, haben Sie etwas gefunden, das uns weiterhilft?«
»Ich habe ihre Mails gecheckt, sie hat zum Glück kein Passwort eingerichtet, aber auf den ersten Blick nichts Interessantes entdeckt. Und um die gelöschten Dateien, die sich nach wie vor noch auf der Festplatte befinden, untersuchen zu können, muss sowieso ein Spezialist ran«, meinte Weber, nahm Monika Jacobsens Laptop vom Schreibtisch und klemmte ihn sich unter den Arm. Und wie sieht es bei Ihnen aus?«
»Fehlanzeige«, antwortete Anna, während sie mehrere im Abfallkorb liegende Papierschnipsel einsammelte, die sie für weitere Untersuchungen in eine beschriftete Plastiktüte steckte. »Überhaupt frage ich mich, wo Monika Jacobsen ihre Arbeitsunterlagen aufbewahrt hat. Schließlich muss sie als Steuerberaterin doch auch
heute noch eine Menge Akten besitzen, selbst wenn sie ihren Beruf nicht mehr ausübt. Soweit ich weiß, ist sie sogar gesetzlich dazu verpflichtet, alle Geschäftspapiere mindestens zehn Jahre lang aufzubewahren. Genauso wenig habe ich irgendeine persönliche Aufzeichnung, nicht einmal einen Terminkalender, einen Brief oder eine Urlaubspostkarte gefunden. Daraus folgt, dass Monika Jacobsen entweder noch ein Büro außerhalb dieses Hauses unterhält oder jemand nach ihrem Tod hier gründlich aufgeräumt hat.
Apropos aufräumen, Weber. Ich finde es nach wie vor mehr als ungewöhnlich, dass wir bei der Toten keine Handtasche gefunden haben. Dabei können wir mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sie eine dabeigehabt hat. Welche Frau verabredet sich denn schon zum allerersten Mal mit einem Mann, ohne die Möglichkeit zu haben, sich den Lidstrich nachzuziehen, falls es nötig ist.«
»Sie haben Recht, Anna. Also muss die Tasche entweder vom Täter mitgenommen worden sein, oder eine dritte Person hat sie zufällig irgendwo in der Nähe des Tatortes gefunden und an sich genommen. Vielleicht sollten wir bei den umliegenden Polizeistationen einmal nachfragen, ob dort jemand eine Handtasche abgegeben hat.«
»Gute Idee, Weber, ich übernehme das. Aber falls es doch der Täter war, der die Handtasche beseitigt hat, frage ich mich, warum er andererseits Monika Jacobsens Brieftasche zurückgelassen hat. War er nur unachtsam, oder hat er vielleicht sogar gewollt, dass ihre Identität schnell geklärt wird? Und falls es kein Versehen gewesen ist, versucht uns der Täter damit nicht von Anfang an
in eine ganz bestimmte Richtung zu locken? Vielleicht hatte Monika Jacobsen etwas bei sich, das für den Täter von großem Wert war, weshalb er nach dem Mord auch alles so arrangiert hat, dass wir nur ja nicht auf die Idee kommen, dass es sich bei diesem Verbrechen
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