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Totenrache und zehn weitere Erzählungen

Titel: Totenrache und zehn weitere Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Frank
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heiße Luft in ihr Ohr, sie spürte die sanfte Berührung seiner Lippen und zuckte nach vorn weg, bis die Schärfe des Stahls sie zügelte. „Geben Sie auf“, sagte sie mit schriller Stimme, „und beweisen Sie, dass Sie Gutes tun können.“
    Der Mann schwieg, und Anna rollte mit den Augen nach links und rechts, was ihr in den Augen der sie anstarrenden Polizisten wohl den Anschein einer Wahnsinnigen geben musste, um wenigstens den Schatten einer Reaktion von ihm zu erhaschen, doch vergebens. Tüftelte er an einer Antwort oder wollte er nur ein wenig Zeit verstreichen lassen, um dann umso effektvoller die Klinge in ihr verschwinden zu lassen? Manchmal fing das Messer einen Sonnenstrahl auf und stieß ihn weiter, sodass er über den Boden oder den Lack der Wagen zuckte. Am Stand der Sonne errechnete Anna, dass es ungefähr halb drei war; demnach befand sie sich nun schon annähernd zwei Stunden in der Gewalt des Mörders. Doch kaum hatte sie ihre Berechnung abgeschlossen, musste Anna sie mit einem Anflug von Zerknirschung verwerfen, denn ferne Kirchenglocken tönten zweimal.
    Im Nachhall dieses leisen Lautes hinein sagte Hohlberg, kaum lauter und weniger wohltönend: „Ich habe meine Frau umgebracht und nach ihr meinen Sohn. Sie haben ganz Recht: Ich habe etwas Schlimmes getan. Etwas so Schlimmes, dass niemand imstande sein wird zu sagen, er könnte das verstehen. Vielleicht könnte ein Anwalt das.“ Er stieß ein brüchiges Lachen aus. „Aber niemand sonst. Wie könnte ich da aufgeben? Mit welchem Recht kann ich mich nun mit erhobenen Armen hinstellen und sagen, dass es vorbei ist? Es ist kein Spiel, das ich beenden kann, weil mir die Lust daran vergangen ist. Ich habe mit einem Messer, das ebenso gut geschliffen ist wie dieses, mehrmals auf meinen Sohn eingestochen, bis all das Blut einen hässlichen Fremden aus ihm machte. Und meiner Frau hab´ ich die Kehle durchgeschnitten. Soll ich Ihnen was sagen? Ich war immer Herr meiner Gedanken. Letztlich war ich das, auch wenn es nicht so aussieht. Ich bin nicht geisteskrank und gehöre nicht ins Irrenhaus.“
    „Nein...“, wandte Anna ein.
    „Aber gehöre ich ins Gefängnis? Zu den Verbrechern, dem Abschaum, der nichts aus seinem Leben zu machen weiß, zu all den kranken Gestalten? Gehöre ich in diese Gesellschaft? Was meinen Sie?
    „Ich denke...“
    Er ließ sie abermals nicht aussprechen. „Bestimmt nicht.“ Anna spürte, dass Hohlberg den Kopf wandte und in die Sonne blinzelte. „Bestimmt nicht. Bevor ich da rein muss...“ Er ließ den Satz unausgesprochen verstreichen, aber Anna musste den Rest auch nicht hören, um das Unheil zu ahnen. „Ich werde einen Wagen fordern und Geld, und wenn beides da ist, werden wir eine kleine, aber vermutlich nicht sehr gemütliche Fahrt unternehmen.“
    „Aber das ist doch Wahnsinn!“
    Wieder lachte Hohlberg, weder klang es fröhlich noch traurig; sein Mund fabrizierte lediglich eine Reihe von neutralen Tönen. „Ja, vermutlich, aber das ist mein ganzer Plan.“

    Die Glocken tönten dreimal; zwei Kirchen schlugen vollkommen übereinstimmend, eine dritte hing zaudernd ein wenig hinterher.
    Der Einsatzleiter hatte seine Forderung wiederholt, dass Hohlberg aufgeben sollte; der Mörder hingegen hatte bislang weder Fluchtwagen noch das Geld erwähnt. Anna überlegte sich, dass ein weiterer Aspekt seines unsinnigen Plans war, den Einbruch der Dämmerung abzuwarten. Ein anderer Mann, in dem Anna unschwer einen Psychologen erkannte, war hinzugekommen und hatte, wie eine Mutter auf ihr ungezogenes Kind, auf Hohlberg eingeredet, bis der ihn anherrschte, er würde die Geisel töten, wenn er nicht mit dem Geseiche aufhörte.
    Die letzten Minuten waren schweigend verstrichen. Es war beinah angenehm, den warmen Schein der Nachmittagssonne zu spüren; Anna war versucht, die Augen zu schließen, um sich ein Stück dieses Zaubers zu bewahren. Aber das war trügerisch!, sagte sie sich und befahl sich, ihre Rolle als Geisel mit größter Aufmerksamkeit zu meistern. Vielleicht ergab sich bald eine Gelegenheit, die sie binnen eines Sekundenbruchteils erkennen und nutzen musste. Es mochte sein, dass ein solches Maß an Optimismus angesichts einer Messerklinge, die so scharf wirkte, dass mit ihr womöglich Amputierungen durchgeführt werden konnten, mehr als unangebracht war, aber Anna war der Überzeugung, dass diese Art von Naivität fruchtbarer war als desillusioniertes Empfinden. Immerhin, sagte sie sich und spürte einen

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