Totenrache und zehn weitere Erzählungen
zu; die Schatten, die länger wurden und das Licht aufsaugten, kündigten die Stunde ihres Todes an. Anna erwartete jeden Augenblick das Tönen der Kirchenglocken, womit belegt wäre, dass die Frist vorüber war. Von einem Fluchtwagen war nichts zu sehen, und Hohlberg hatte nicht mehr insistiert. War er sich seiner Sache so sicher, dass er sich nicht vergewissern musste, oder hatte er im Gegenteil seinen Glauben an eine Flucht begraben? Er hatte auch zu Anna kaum noch ein Wort gesagt, so dass sie das Gefühl hatte, hinter ihr stünde eine katatonische Gestalt, deren einziges Ziel es war, die Sekunden bis zu ihrer beider blutigem Ende herunterzuzählen. Das prägnanteste Anzeichen seiner Gegenwart war die Hand, die bleischwer auf ihrer Schulter lastete und das Messer hielt. Die Klinge war nicht mehr so bedrohlich nah an ihrer Kehle wie in den Stunden zuvor, aber sie war immer noch stets präsent.
Fast schlimmer als all das war das Schweigen, das um sie herum herrschte, als hätte Hohlberg ihr Pflöcke in die Ohren getrieben; es riss tiefe Klüfte in die kümmerlichen Reste ihres Vertrauens auf Rettung. Es schien so, als wäre es bereits um sie geschehen und das, was sie nun gerade erlebte, nichts weiter als ein Erinnerungsfetzen ihrer davonjagenden Seele. Um dieses Bild, das zu verstörend war, auszulöschen, scharrte sie leicht mit dem Fuß über den Boden und war dankbar für den Laut. Ihr Durst war jetzt unerträglich; die Zunge lag wie ein verdörrter Fisch in ihrem Mund. Ebenso quälend durchzuckte sie der stete Schmerz, der von ihrem Rücken ausging und über den Nacken bis in ihren Schädel brandete.
Ich bin ein Wrack, dachte sie freudlos, mit fünfunddreißig sammle ich Schmerzen wie andere Menschen Kronkorken. Sie schwor sich, Vitalität und Schwung in ihr verstaubtes Leben zu bringen, vorausgesetzt natürlich, der Messerhieb bliebe aus.
Sie schielte nach unten, bis ihre Augen vornüber aus den Höhlen zu kippen drohten, und erfasste die erwartungsfrohe Klinge; zwischen ihr und ihrer Kehle befand sich eine Handbreit Luft. Eine Handbreit, dachte Anna, und ein unmöglicher Plan ballte und formte sich wie ein Knäuel Staub. Hohlberg hatte sie offensichtlich abgeschrieben oder seine Erschöpfung war ebenso groß wie ihre. Anna kaute auf ihren Lippen. Ihr Plan war so simpel wie der eines Kleinkindes, und sie wusste, es gab selbst in der Theorie hundertfältige Möglichkeiten, die ihn durchkreuzen konnten. Allein die Tatsache, dass sie Hohlbergs Passivität nicht einschätzen konnte, zernagte ihren Mut zu einem unansehnlichen Brei.
Ihre zerkauten, vielleicht blutigen Lippen schmerzten, und sie hielt inne und atmete einige Male tief ein und aus. Ihr war heiß und kalt gleichzeitig, als kündigte sich eine Krankheit an.
Konzentrier dich!, dachte sie, dann wirst du es schaffen! Konzentrier dich nur! Gott ist auf deiner Seite!
Jetzt ihre Hoffnung auf Gott zu setzen, beschämte sie, denn den Glauben an ihn hatte sie vor vielen Jahren gegen pragmatischere Lebenshilfen eingetauscht. Aber sie befand sich nun einmal in einer elementaren Situation, da durfte sie die vage Möglichkeit auf Hilfe von allmächtiger Seite nicht ausschlagen. Gab es nicht immer wieder Menschen, die von Wundern sprachen, welche ihnen widerfahren waren? Warum sollte nicht auch Anna ihnen bald ihre Stimme leihen?
Ich will leben!, dachte sie zornig und riss ihren rechten Arm hoch, um binnen einer Sekunde das Gelenk von Hohlbergs linker Hand, die das Messer hielt, zu packen und mit aller Kraft wegzustoßen. Das tat sie in dem Augenblick, in dem die Kirchenglocken zu läuten begannen. Vor Schreck oder Überraschung oder beidem geriet die Wucht von Annas fulminantem Stoß ins Taumeln.
„Was zum Teufel...!“, rief Hohlberg erstaunt und brachte das Messer in Angriffsposition. Er spürte einen Widerstand, wo keiner sein sollte, und spähte über Annas Schulter und hatte dasselbe Bild vor Augen wie seine Geisel, aus deren Mund zischend der angehaltene Atem entwich; ein Schock- und Schmerzenslaut.
Annas Hand hielt statt Hohlbergs Handgelenk die Klinge umschlossen. Blut tröpfelte zwischen den geschlossenen Fingergliedern. Zerschnitten, dachte sie, aber eher akademisch als ängstlich, meine Hand ist zerschnitten. Die Wunde, die sie nicht sehen konnte, schmerzte weniger, als sie befürchtet hatte, dafür spürte sie ein schnelles Pulsieren, das ständig an Intensität zunahm und verzehrende Hitzefontänen ausspie. Sie unternahm den Versuch, die Faust
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