Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Totenrache und zehn weitere Erzählungen

Titel: Totenrache und zehn weitere Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Frank
Vom Netzwerk:
verkrampften Körper gelang. Ihr erstarrter Brustkorb war bis zum Platzen mit Granit überfüllt. Die gute Luft, die sie einsog, wurde ihr im Mund schal.
    Beruhig dich!, machte sich tief in ihr eine Stimme bemerkbar, doch stattdessen schoss neuerlich Entsetzen in ihr hoch, und gleich darauf wurde sie hemmungslos von Heulkrämpfen geschüttelt, welche sie auf ein unansehnliches Knäuel aus Emotionen reduzierten.
    Sie wusste nicht, wie lange dieser Anfall ging; es konnten Sekunden aber auch endlose Minuten gewesen sein. Die zaghafte Wiederkehr ihrer Beherrschung nahm sie freudig zur Kenntnis, bewies es doch immerhin, dass sie unbeschadet war und lebte.
    Sie sog tief Luft in ihre Lungenflügel, die sich jetzt ohne jegliche Verweigerung blähten, und wiederholte das mehrmals. Zwischen zwei ausgiebigen Schnaufern, die ihre Wangen aufplusterten und ihr Gesicht zu einer wilden Grimasse stauchten, dachte sie, dass fast alles außer ihrer Angst weit fort war. Ihr Stolz war fort angesichts ihrer besudelten Hose. Der Glanz unverfälschter Freude am Leben in ihren Augen; aufgeweicht vom Rotz, der ihr unablässig aus der Nase rann und den sie nicht wegwischen konnte. Ihre mittelmäßige, aber dennoch lieb gewonnene Vergangenheit und ihre Zukunft, an welche sie stets unverdrossen geglaubt hatte; niedergetrampelt von der unberechenbaren Bestie namens Hier und Jetzt .
    Die wenigen Sekunden, die Anna mit dem Messer an der Kehle durchlebt hatte, erwiesen sich nun als reinste Mathematik, als eine radikale Subtraktion, deren Summe ein traumatisierter Mensch war, der hinter jedem erlauschten Geräusch pures Grauen vermutete und sich vielleicht eines Tages fragen würde, ob der Tod nicht das kleinere Übel gewesen wäre.
    „Warum tun sie mir das an?“, fragte sie Hohlberg nach einer Weile. Der Klang ihrer Stimme ließ sie erschaudern; die Silben schienen aus einem schleimverdickten Tümpel aus Tränen zu sprudeln.
    Die Antwort, die kam, klang fast zaghaft, als würde er bedauern, was geschehen war. Zweifellos war Hohlbergs Jähzorn eine berechnende Showeinlage gewesen; Futter für die Feinde. „Es geht hier nicht um dich. Ohne Sie wäre ich längst verloren.“
    Anna fiel auf, dass er mal zum Du, dann wieder zum Sie umschwenkte.
    „Ich kann verstehen, dass Sie mich zum Teufel wünschen; würde mir an Ihrer Stelle nicht anders ergehen. Sie können mir Vorwürfe machen, mich verwünschen, Drohungen aussprechen. Ich lass Sie das tun.“ Er lachte nun leise. „Vielleicht bin ich Ihnen dass ein bisschen schuldig.“
    „Wie gnädig!“, sagte Anna und bemerkte erst, als ihr die Worte entschlüpft waren, wie ätzend sie klangen.
    „Nein!“ Sein leises Lachen, nur für ihre Ohren bestimmt, verhallte. „Ihr einziges Privileg. Mehr bleibt Ihnen nicht. Es ist möglich, dass Ihnen eine Drohung im Hals stecken bleibt, wenn ich ihn aufschlitze. Was ich vorhin gesagt habe, waren keine leeren Worte. Ich hab´ meine Familie ausgelöscht; nichts anders mache ich mit Ihnen, wenn etwas schief läuft.“
    Anna verschlug es die Sprache angesichts dieser wie im Plauderton ausgesprochenen Aussicht. Eine Stunde!, dachte sie und korrigierte sich sogleich: weniger noch. Und dann, was geschah dann? Die Zahl, die hinter dieser Zeitspanne stand, die jämmerlichen Minuten und Sekunden, zuckten wie eine Parade an ihrem geistigen Auge vorüber. Fand hier, in diesem engen, dreckigen Hof ihr Leben sein Ende? Diese Vorstellung, die schrecklichste ihres Lebens, erfüllte sie mit unaussprechlichen Schlachthaus-Entsetzen; es pumpte sich durch ihre Adern und Blutgefäße. Und plötzlich war da der viehische Impuls in ihren Beinen, einfach davonzurennen. Ihre Nerven schienen zu vibrieren, und nur ein kräftiger Biss auf ihre Zunge, der ihren Mund mit einigen Bluttropfen füllte, verhinderte, dass das blinde Gefühl Oberhand gewann.
    Sie starrte mit nach oben verdrehten Augen in den Himmel, der sich gleichgültig über sie spannte und versuchte an nichts zu denken. Langsam, wenngleich nur scheinbar legte sich der Aufruhr in ihrem Innern, der Atem beruhigte sich zusehends und der kalte Schweiß trocknete. Es wunderte sie, dass Hohlberg nicht mitbekommen hatte, dass für wenige Sekunden die dünne Schicht zivilisierter Abgeklärtheit ausradiert worden war und stattdessen der in ihren Genen schlummernde panische Affe die Herrschaft übernommen hatte. Oder vielleicht hatte er, überlegte sie dann, und war erfreut über die Wirkung seiner Drohung.

    Es ging auf siebzehn Uhr

Weitere Kostenlose Bücher