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Totenrache und zehn weitere Erzählungen

Titel: Totenrache und zehn weitere Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Frank
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Mädchens, die weinende Mutter, der bittende Vater.
    Das also war Stantons Vermächtnis. Später konnte Joey vielleicht darüber nachdenken, ob es eine üble Laune des Schicksals war, dass er nach dem Täter auch das Opfer fand; jetzt jedoch wollte er sich nicht mit solchen Fragen beschäftigen. Wie konnte Philosophie bestehen angesichts des puren Grauens, das er sah und empfand.
    Er sah keine Zeichen von menschlicher Gewalt, also war Julia vermutlich verdurstet und verhungert oder an Kummer gestorben. Warum war Stanton zum Schluss offenbar nicht mehr zu ihr gegangen, um sie mit Nahrung zu versorgen und ihr einzureden, dass sie bald wieder frei wäre? Warum hatte er sie aufgegeben und war zum Mörder geworden, der keinen anderen Ausweg sah, als sich schließlich selbst Gewalt anzutun?
    Joey zuckte mit den Schultern. Diese Antworten hätten ihn interessiert, aber er wusste, dass er sie niemals im Dickicht menschlicher Irreführungen entdecken würde. Von Tragödien blieb selten mehr übrig als das, worauf er nun schaute: traurige Überreste und offene Fragen.
    Ihre geöffneten, zur Decke gerichteten Augen hatten keinen Blick mehr; der frühere Glanz in ihnen war zu einer grauen Masse geronnen und tief in den Schädel eingesunken. An der Nase der Leiche hing ein zitterndes Bündel aus Gewürm und fraß sich geduldig durch das Fleisch des Mädchens. Er beobachtete das Ungeziefer, das sich aus sich selber schuf. Maden krochen aus den Höhlungen des verdorbenen Fleisches und wieder hinein. Der lippenlose Mund des Mädchens war derart angereichert mit kriechendem Leben, dass Joey es leise aus ihm schmatzen hörte; wie ein Kind mit schlechten Manieren.
    Aus totem Leben entstand tausendfach neues, dachte Joey schaudernd.
    Eine Zeile aus einem melancholischen Artikel über Julia fuhr ihm in den Sinn, in dem es geheißen hatte, wie wichtig ihr die Natur gewesen war, wie sehr sie die gesamte Schöpfung geliebt hatte.
    Welch ein Widerspruch!, dachte er und wunderte sich über die Verbitterung, die diesem Gedanken folgte und die ihn dazu brachte, die Hände zu Fäusten zu ballen. Das Mädchen konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun, aber die Fliegen ihm hingegen durchaus.
    Ein Zittern durchfuhr ihn, während er dem Schmaus der hungrigen Schöpfung folgte. Dem Schauspiel haftete nichts an, mit er dem seine Wut hätte lindern können. Die Natur war ein Monster, sah er jetzt, das seinesgleichen fraß. Daran war nichts Verniedlichendes. Er hatte nie Angst vor dem Tod gehabt – jetzt war sie plötzlich da; mit hämmernden Schlägen war sie drauf und dran, die dünne Schicht aus Gelassenheit zu durchbrechen. Auch ihn würden sie Stück für Stück ausnehmen und fressen, mit Mäulern, Klauen und ihren Säuren, mit dem sie ihn aufweichen konnten.
    Langsam wischte er sich mit einer zitternden Hand über das Gesicht und wandte den Blick ab von der Leiche. Die Bewegung seiner Hand erstarb, als er den Gegenstand bemerkte, der am Boden stand, zum Großteil verdeckt durch die Pritsche. Er trat einen Schritt zurück und sah, dass es sich um einen Lederkoffer handelte; ein teures Stück, stellte er fest, als er ihn zu sich heranzog, und nicht nur deshalb völlig fehl am Platz. Der Zwillingslaut der nach oben schnappenden Metallverschlüsse dröhnte wie ein Pistolenschuss in seinen Ohren. Zahlreiche Insektenleichen rutschten vom glatten Leder, als Joey den Koffer öffnete.
    Mit aufgerissenen Augen starrte er auf den Inhalt und versuchte, seiner widersprüchlichen Gefühle Herr zu werden. Er stöhnte leise auf, als ein Taumel ihn erfasste, der seinen Blick verschwimmen ließ. Aber das Bild hatte sich bereits so sehr in sein Hirn eingebrannt, dass er sich genauso gut auch die Augen aus den Höhlen hätte kratzen können; es wäre ihm stets präsent geblieben.
    Er grub seine Hände in die zahllosen Bündel aus Geld und hörte ihr geheimnisvolles Knistern und Rascheln.
    Das Lösegeld!, schoss es ihm wie ein Blitz durch den Kopf. Sie hatten das Geld gezahlt, obwohl das Kind zu diesem Zeitpunkt offensichtlich bereits tot gewesen war. Dann war dies die letzte menschliche Tat Stantons gewesen, bevor er die tödliche Schlinge in das Seil knotete: voller Reue, Schmerz und Angst den Koffer zu dem Mädchen zu bringen. Glaubte er an Gott und wollte dessen Zorn auf ihn abmildern? Das Fegefeuer, in dem der Mann nun schmorte, war sicherlich immer noch heiß genug, mutmaßte Joey.
    Ein Laut wie Jauchzer und Lachen in einem entfuhr seinem Mund, Gestank und

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