Totenrache und zehn weitere Erzählungen
zu verlöschen drohten. Der Schmerz enterte ihre Augen, die flehend auf die Polizisten blickten, die langsam, ihre Waffen im Anschlag, auf Anna und Hohlberg zukamen. Sie widmeten all ihre Aufmerksamkeit ihm, dem Toten, und missachteten sie völlig.
„Er ist doch tot“, sagte oder dachte sie und reckte ihre blutige, aufklaffende Hand demjenigen Polizisten entgegen, der ihr am nächsten stand. Es dauerte lange, bis zwei, drei Köpfe sich in ihre Richtung wandten. Anna nahm sie als verwaschene Schemen wahr, die näher kamen; alles, selbst das Blut, welches von ihrer erhobenen Hand rann, verlor an Farbe und Form. Und auch das Licht der Sonne wurde plötzlich, wie wenn jemand einen Schalter umgelegt hätte, spröde und kalt. Anna Augenlider flatterten nieder und Schwärze, dick wie Tinte, stülpte sich rüde über sie und trug sie weg von ihrem toten Schänder und dem Schmerz.
Flucht zur Leidenschaft
Früher waren Architekten hergekommen und hatten ihre Fähigkeiten hier erprobt und ihre Wirklichkeit gewordenen Träume umjubelt. Jedes Haus, hatten sie gesagt, war ein Kunstwerk, jede Straßenkreuzung ein unwiderstehlicher Anziehungspunkt. Aber wo immer Träume blühten, gab es Umstände, die sie auch wieder zerstörten. Diese Zerstörer hatten durch und durch menschliche Namen und bewohnten den Line-Street-Bezirk. Wie in jedem Ghetto blühte in den Hinterhöfen das Geschäft mit Drogen und Liebe. Kinder wurden gezeugt und verdammt, Spiele wurden blutiger, genau wie die Gräueltaten.
Anfangs wurden herausgerissene Bäume in den kleinen Parks von liebevollen Händen wieder ersetzt und ausgebrannte Autowracks von den Straßen entfernt, bis auch der Letzte dieses Spiels müde wurde und das Ausmaß an Zerstörung die einzige Attraktion war, die das Viertel den Touristen, die sich hierhin verirrten, zu bieten hatte.
Die Kinder machten sich neuerdings einen Spaß draus, verständnisvollen Gurus hinterherzulaufen und deren Beiträge als Gebot zu betrachten. Jede Minute des Lebens, so wurde ihnen gepredigt, bestand letztlich aus Gewalt. Sollte jeder für sich entscheiden, ob man sie empfing oder in die öde Welt trug. Die Kids waren überzeugt davon. Wer sich ihnen nicht anschloss, zählte zu den Verlierern, die erst ihren Stolz gaben, wie einst die Architekten, und schließlich ihr Fleisch
Harold Byron gehörte zu den geborenen Opfern. Der war Futter, so lecker, dass seine Jäger ihren Hunger dran stillten. Er wehrte sich wegen seines schwachen Körperbaus nie, und um Hilfe schreien konnte er nicht, da er stumm war. Was an Krächzen über seine Lippen drang, wurde bestenfalls ignoriert.
Er hatte sich dran gewöhnt. Wenn seine Laune es zuließ, war er in der Lage, Verständnis für die hinter ihm herjagenden Bestien aufzubringen, von denen einige seine Freunde gewesen waren, früher, als seine Zunge noch die Fähigkeit besessen hatte, Worte zu formen und nicht dieses Gegrunze. Manchmal, wenn er nicht Acht gab, entfuhr es ihm, und seine Behinderung widerte ihn an, um so mehr, wenn er Zuhörer hatte, die ihn dann verständnislos anschauten oder, schlimmer noch, Bemerkungen machten, die ihn beschämten.
Das war eine Albtraumszenerie, die er mehr als andere fürchtete. Manchmal wägte er die Opfer ab, die er geben würde, könnte er die Kunst des Sprechens wieder beherrschen. Es war eine Angewohnheit von ihm, das zu tun, vielleicht um die Endgültigkeit seiner Behinderung anzuzweifeln. Er dachte auch jetzt wieder darüber nach, während er langsam die windigen Straßen entlangschlenderte. Nur zufällig entdeckte er die Horde; er schaute kurz auf und blickte genau in die Richtung, wo sie versammelt war. Die Jungen und Mädchen kamen aus der Schule, gefrustet und gemästet von den üblichen Erfahrungen. Ein Himmelreich für etwas Zerstreuung, ein Himmelreich würden sie geben. Fünfzig Meter und eine kaum befahrene Straße trennten sie voneinander.
Harold machte kehrt und rannte die Straße entlang. Befürchtungen drosselten seinen Atem. Wenn es ihm nicht gelang, ihnen zu entkommen, dann... Gott, er hatte Glück gehabt bislang. Nie war er richtig in ihre Fänge geraten. Aber er kannte ihre rasenden Gesichter nur zu gut, ihre geschwungenen Fäuste und die Schlagringe daran, die schon so oft Blut und Schmerz hervorgelockt hatten. Um Nachsicht zu betteln, weckte bloß Schadenfreude und neue Lust.
Schon nach einigen hundert Metern war er ausgelaugt. Mit zitternden Beinen bog er in eine Nebenstraße ein und suchte verzweifelt
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