Totenrache und zehn weitere Erzählungen
zu öffnen, aber die durchtrennten Muskeln ignorierten diesen Befehl, so war Anna zu gröberen Mitteln gezwungen. Mit aller Kraft wuchtete sie sich mit ihrer Schulter gegen Hohlberg, der nach hinten wegtaumelte. Das Messer löste sich mit leisen Schlitz- und Schneidelauten aus seiner fleischlichen Umhüllung und zog eine blutige Schärpe aus Fleisch und Geweberesten hinter sich her. Hohlberg fing sich wieder und stieß mit dem Messer nach Anna, die jedoch die Zeit genutzt und sich mit einem Sprung in Sicherheit gebracht hatte. Sie kam jedoch nicht weit: Schmerz und Schwäche ließen sie lang hinschlagen. Ihre Hand pulsierte und war klebrig und heiß. Sie getraute sich nicht, einen Blick zu wagen. Stattdessen hörte sie, wie das Blut in ihren Schoß strömte.
„Hände hoch!“, gellte die zu Leben erwachte Megafonstimme. „Waffe weg!“
Hohlberg ignorierte die Aufforderung, seine Aufmerksamkeit galt einzig Anna. „Du hast mich übertölpelt“, sagte er. Klang seine Stimme erleichtert? Zum erstenmal konnte Anna nun ausgiebig sein Gesicht studieren. Sah man von der Erschöpfung ab, war es ein durchaus hübsches Gesicht mit nur kleinen Makeln wie zum Beispiel einer zu langen und zu krummen Nase. Intelligenz blitzte in seinen blauen Augen, was seine Taten nur noch unbegreiflicher machte. Solche Augen waren zu schade für das hier, für diesen hässlichen Ort, von dem nichts ausging außer Tristesse; solche Augen waren geschaffen, ein gutes Buch zu lesen oder den Wert eines edlen Weines erkennen zu können. Sie waren dazu da, Schönheit zu entdecken und den Mund staunend darüber berichten zu lassen.
Anna verspürte das Bedürfnis, etwas zu sagen, damit Hohlberg ihr eine Erklärung für seine Gräueltaten lieferte, etwas, woran sie nachts, wenn Albträume sie aufschreckten, denken konnte. Aber sie brachte keines der Worte, die sich in ihr aufstauten wie Blähungen, über ihre Lippen, denn Hohlberg kam ihr zuvor; er rammte sich, den Blick ruhig auf Anna gerichtet, das Messer in den Leib, wo es bis zum Heft verschwand. Er stöhnte auf und wankte, doch er ließ sie keinen Moment aus den Augen.
„Hohlberg!“, gellte es aus dem Megafon. „Scheiße!“
Ein leises Knirschen ertönte, als der Mörder das Messer aus der Wunde riss. „Ich geh nicht ins Gefängnis. Hab es doch gesagt.“
Ein Schuss ertönte und zerschmetterte Hohlbergs Schultergelenk, um ihn an einer weiteren Selbstverstümmelung zu hindern. Er machte eine ungelenke Pirouette und sackte dann in die Knie. Sein Mund stand offen, blutiger Speichel, dick und aufgeschwemmt wie Schaum, rann ihm übers Kinn.
„Hören Sie auf!“, schrie Anna zu Hohlberg. In ihrer Hand loderte es unerträglich, aber sie missachtete ihren Schmerz; schlimmer war Hohlbergs Niedergang. „Du blödes Arschloch, hör auf damit!“
„Ich hab es gesagt!“ Hohlberg brachte tatsächlich ein Lächeln zustande, das schaurig wirkte mit all dem Blut im Gesicht, an seinem Kinn, seinen Lippen und Zähnen. Dann nahm er das Messer in die andere Hand und schlitzte sich mit roher Gewalt die Kehle auf. Sein Hals klaffte auf wie ein übergroßer, obszön bemalter Mund. Würgend spie er Blut hervor, und mit einem Rasseln entwich Luft aus der Wunde. Langsam glitt Hohlberg auf den Boden und lag da wie niedergemetzeltes Vieh. Röchelnd und ruckend erstarben seine sinnlosen Bewegungen.
Der Anblick war zu schrecklich, um ihn ertragen zu können. Anna schaute nieder und widmete sich mit aller Aufmerksamkeit ihrer Hand, die ihr fremd erschien; wie die Hand eines verunstalteten Geistes. Sie blickte auf Hautlappen, die sich öffneten, als sie ihren Arm bewegte, und dahinter leuchtete das Weiß ihres Fleisches und der bebenden Muskeln. Der kleine Finger schien nur noch mit Hautfetzen oder dünnen Sehnen mit dem Rest ihrer Hand verbunden zu sein und baumelte leblos neben dem Ringfinger herunter. Erst jetzt begriff sie, dass Hohlberg sie mit einem beidseitig geschliffenen Messer bedroht hatte, denn nicht nur ihre Finger, sondern auch ihre Handfläche war derart verwüstet, dass Anna für einen Moment schwarz vor Augen wurde. Blut rann in einem endlosen Strom auch aus dieser Wunde, dahinter wurde ein Spalt in ihrem Fleisch sichtbar, in dem sie bequem einen Stift hätte versenken können.
Jede Sekunde, die sie länger auf diese blutige Verwüstung starrte, blähte den Schmerz auf. Er schwoll in ihrem Leib an wie ein unerwünschtes Kind und sorgte dafür, dass ihr Mund Jammerlaute ausspuckte und ihre Sinne
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