Totenrache und zehn weitere Erzählungen
nach einem Versteck. Die Gegend war mit Hinterhöfen übersät. Die meisten sahen ganz passabel aus: Gerümpel bis an die Grenze zur Standfestigkeit türmte sich dort auf, Spalten und Fugen zuhauf, in die man sich quetschen konnte. Aber ihm fehlte die Zeit dazu.
Er hörte einen Befehl. „He, Byron“, schrie Costello, „bleib stehen!“ Fünf Sekunden verdrossenen Schweigens folgten. „Bleib stehen, sag ich!“ Die Stimme troff vor Wut.
Die Häuser wurden mit jedem Schritt, den er tat, schäbiger. Keine Front, die nicht mit Graffiti beschmiert war. Meistens Parolen. Obwohl dies sein Geburtsort war, verlor Harold die Orientierung. Er hatte gelernt, dass es Flecken gab, die er meiden musste. Freiwillig hatte er sich schon lange nicht mehr hierhin gewagt, in dieses Verwirrspiel aus Gassen und Passagen. Heimweh überkam ihn, ein Gefühl, das ihn resignieren ließ. Er kämpfte mit den Tränen, mehr aus Ärger als aus echter Trauer. Seine Lunge brannte, und vor seinen Augen platzten kleine Ballons, die immer neue Nachzügler fanden. Dennoch nahm er auf der anderen Straßenseite ein Haus wahr, das sein Interesse weckte. Die Tür stand offen, und eine dahingemalte, riesig proportionierte Frau schmückte die Wand daneben. Ihr brennender Blick wies für immer zur gegenüberliegenden Front, ihr Mund war für die Ewigkeit zum Lächeln gerafft, und ihr bloßgelegter Körper streckte sich dem Betrachter schamlos entgegen. Ihr unbehaartes Geschlecht funkelte in dunkel gehaltenen Rottönen; Die Monstrosität, die von diesem Gebilde ausstrahlt, liess den Jungen schaudern.
Ausgelaugt überquerte Harold die Straße und erklomm die Stufen des Eingangs, auf denen ein Mädchen saß, das ihm entgegenstarrte. Er beachtete es nicht, als er an ihm vorüberlief und im Eingang verschwand. Dort verblasste der Ruhm vergangener Jahre zusehends. Es schien fast, als würde der Verfall von oben herabkriechen. Harold passierte zerstörte oder eingetretene Türen, niedergerissene Geländer und weitere hingekritzelte Botschaften an den Wänden. Nach der letzten Treppe wurde die Verwahrlosung überwältigend. Das wenige Licht, das durch dreckverschmierte Fenster hereinsickerte, deckte allen Unrat auf. In einer Ecke waren die Wände rußgeschwärzt, versehrt von einem vor Jahren ausgebrochenen Feuer. Zeitungen lagen umher, Kleidungsstücke und zerbrochene Flaschen. Vor einer der beiden Wohnungstüren lag ein toter Vogel, den vielleicht eine Katze dort deponiert hatte. Außerdem stank es nach Erbrochenem. Erst jetzt sah, dass er nicht allein war. Das Mädchen war ihm lautlos gefolgt und ließ nun seinen Blick auf Harold ruhen. Er mochte diese Musterungen nicht. Man sah den Gesichtern an, dass er fast nie gut dabei wegkam, als besäße er irgendwelche verdeckte Mängel, die ihm gänzlich unbekannt waren. Jetzt aber, da sie es tat, änderte er seine Meinung und versuchte, das Schmutzlicht zu seinem Vorteil auszunutzen.
Seine Verfolgerin schloss die Begutachtung mit einem Lächeln ab. „Okay“, sagte sie, „und was geschieht jetzt?“
Die Frage lockte ein Grinsen hervor, das breiter wurde, je angestrengter Harold versuchte, es zu unterdrücken. Die Ahnungslosigkeit, die in dieser Frage mitschwang, befriedigte ihn auf rätselhafte Weise. Er selbst wusste am allerwenigsten, was geschehen sollte. Aber die Frage war mit einer Sorglosigkeit gestellt worden, als wüsste das Mädchen von seinen Problemen und hätte längst ein paar Lösungen parat. Das war Harold dieses Grinsen wert.
„Wer bist du überhaupt?“
Harold erklärte mit einstudierter Gestik, dass er stumm war: wies mit einem Finger auf seinen leicht geöffneten Mund und schüttelte den Kopf.
Das Mädchen begriff wohl, ging aber nicht auf diese Offenbarung ein, sondern kräuselte lediglich die Stirn. „Entweder suchst du hier wen, oder du hast dich hierhin geflüchtet.“ Der feste Blick glitt ein wenig von ihm ab. „Ich heiß´ übrigens Cinderella, aber sag besser Cindy zu mir.“ Die kleine Gedankenlosigkeit hing bleischwer in der Luft. „Ich heiß´ Cindy“, sagte sie errötend.
Harold zog einen Schreibblock aus der Jackentasche und schrieb seinen Namen und die Umstände, die ihn in dieses Haus geführt hatten, auf ein Blatt Papier. Das reichte er dann seinem Gegenüber. Fast berührten sich ihre Finger dabei.
Cindy las die wenigen Zeilen, nickte, kräuselte abermals die Stirn und schaute ihm dann ohne eine Spur Geringschätzung ins Gesicht. „Keine gute Gegend hier für dich.
Weitere Kostenlose Bücher