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Totenrache und zehn weitere Erzählungen

Titel: Totenrache und zehn weitere Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Frank
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Ich nehm´ an, du wirst häufiger belästigt.“ Sie deutete vage ins Halbdunkel der Ecken. „Es war mal schöner hier, weiß Gott, aber ich hab´ mich damit abgefunden. Solange man noch leben kann...“ Der Satz flog abgehackt ins Vergessen.
    Nein, sie war kein Mädchen mehr, sondern längst zur Frau emporgereift. Die Verluste, die dieser Wandel gekostet hatte, zeigten sich nun als offene Wunden. Ihre Illusionen waren ausradiert worden und für immer verloren. Ihr Gesicht bestand aus einer lächelnden Fassade, aber dahinter kam Traurigkeit zum Vorschein, sonnenlose Traurigkeit. Er schüttelte den Kopf, aus purem Selbstschutz, um diesen Gedanken - und die weiteren, die sich dahinter bereits formierten – zu vertreiben.
    „Gehen wir rein.“ Cindy drückte gegen die brüchige Tür, welche mangels Schloss aufsprang. Der tote Vogel lag auf anderen Seite des Flurs, wie Harold mit Genugtuung feststellte.
    Hinter der Tür sah er eine andere Welt. Cindy schien eine begeisterte Sammlerin zu sein. Auf jeder verfügbaren Abstellfläche der kleinen Wohnung befanden sich irgendwelche Errungenschaften, denen andere Leute keine Träne hinterhergeweint hätten. Der Hauch ungelöster Geheimnisse strömte aus allen Winkeln der Wohnung.
    „Ich wohn´ allein hier“, sagte sie. „Sei vorsichtig, wohin du trittst.“ Sie räumte zwei Stühle frei, fegte den Tinnef darauf achtlos zu Boden. „Setz dich ruhig.“ Ihre Stimme wandelte sich. Vielleicht hatte sie Zutrauen zu ihm gefunden; entweder das, oder es war einfach Wunschdenken.
    Sie nahmen beide Platz. Das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausbreitete, war Harold vertraut, aber dennoch war die Ruhe anders als sonst. Da war keine Verzweiflung in seinem Kopf, die sich von seinen Träumen nährte, sprechen zu können. Ihm gefiel das Beisammensein mit Cindy. Nicht nur, weil sie ihn vor den Gefahren schützte. Sie war bezaubernd, ganz einfach.
    Mit Bedacht widmete er sich einem weiteren Blatt Papier. Cindy entnahm seinen Handstreichen, dass er diesesmal zeichnete. Das Bild beanspruchte zwei Minuten ihrer Zeit, dann reichte er es weiter. Die Striche und Kreise waren trotz aller Eile voller Stimmungen. Cindy las aus seinen bittersüßen Geständnissen, dass er sich hier geborgen und wohlbehütet fühlte. Sie wusste nicht, was sie darauf entgegnen sollte. Er wünschte eine Antwort, nichts Dahergesagtes. Verlegen blickte sie wieder runter auf seine Bekundungen, wo nur der Mittelpunkt - ihre Wohnung - Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte, während drumherum menschliches Wetteifern und gegenseitiges Niederringen seinen Lauf nahm.
    „Du kannst gut malen“, sagte sie lahm.
    Harold entging keine ihrer Regungen. Er wusste, dass sie keine besseren Worte als diese fand. Er kannte solche Reaktionen. Jeder, der einmal seinen Gesprächen - seine Bilder waren nichts anderes - gefolgt war, brachte keine vernünftige Entgegnung mehr zustande, außer vielleicht Bewunderung. Normalerweise ärgerte ihn dies, jetzt aber empfand er Mitleid. Cindy war nett, süß obendrein, und er war empfänglich für Schönheit; das galt für Kunst und Fleisch. Ein unbekannter Drang staute sich in ihm, und sie fühlte ihn wohl ebenfalls. Ihre Begierde war die seine.
    Ein weiteres Blatt. Harold begab sich daran, ihr seine Gedanken, die er selber kaum verstand, zu erzählen. Das war eine Herausforderung, und er wusste nicht, wie es enden würde. Wenn es jemals endete. Manche Gefühle blieben besser ungenannt.
    Die Minuten zerrannen. Cindy schaute ihm zu dabei, aber sie vermied es, sein unfertiges Kunstwerk zu begutachten; sie verfolgte lediglich, wie sein Körper jeden Strich nachvollzog, beobachtete seine Finger, die den Stift hielten. Sie fragte sich, zu was diese Finger fähig waren. Zu nichts weniger als Zuneigung vermutlich.
    Endlich präsentierte Harold ihr seine Botschaften. Das Bild bestand aus Beweisen und Offerten, denen Cindy nicht widersprechen wollte. Seine Begierde war eindeutig, aber unaufdringlich; wenn er Forderungen stellte, dann entdeckte Cindy sie jedenfalls nicht. Sie schaute auf das Blatt. Gott, was sah sie nicht alles? Sie sah sich selbst, sah sich in jedem Detail, auch die Sonne trug ihr Gesicht, sie erkannte sich in den Wassern im Hintergrund wieder, genau wie in den Straßen, und sie musste sich ihre eigene Schönheit eingestehen. Sie versank fast in dem Bild, so schön war es. Harold hatte nur mit einem Bleistift gezeichnet, aber sie konnte die Farben riechen, jede einzelne. Falls Liebe duftete,

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