Totenrache und zehn weitere Erzählungen
eiskalt. Du wirst dich erkälten.“
„Geh“, murmelte Simmon. Seine Phantasien, in zwölf Jahren Zölibat zu einem liebgewonnenen Kameraden gezüchtet, wurden von der Wirklichkeit niedergerungen. Seine Glieder zitterten vor Kälte und Verzweiflung.
„Brauchen ein wenig Wärme, du und ich. Ich geb sie dir, wenn du magst. Ich nehm mir Zeit, die ganze Nacht, wenn du willst.“
„Geh weg!“ Simmon schrie jetzt.
Und dann, unverblümt: „Ich mach´s dir mit dem Mund.“
„Verschwinde!“ Mit einem Schlag ins watteweiche Gesicht wischte Simmon den Jungen aus der Welt, und dann lief er davon, weg von diesen Illusionen.
Zwei, drei Kilometer weiter blieb er keuchend stehen. Die Atemlosigkeit tat ihm gut, sie merzte wenigstens für ein paar Minuten das Grauen aus. Aber es würde wieder erscheinen, befürchtete er, spätestens dann, wenn die Seitenstiche und die Übelkeit verschwanden.
Die lebenden Toten: nicht nur Muller gehörte zu ihnen, niemand in dieser bekackten Stadt war einen Deut besser. Wenn es Unterschiede gab, dann waren sie zu marginal, um sie zu entdecken.
Langsam setzte er sich wieder in Bewegung und hatte nach zwei Stunden, die reich waren an Niedergeschlagenheit, den Friedhof erreicht: Skyland, so sein beruhigender Name. Es war still dort, die kalte Winternacht raubte der Natur die Stimme. Eine feierliche Stille, für das Desinteresse der Toten eigentlich zu kostbar.
Simmon schwang sich über die eisverkrustete Mauer und stapfte unachtsam über fremde Gräber, die zum Teil gepflegt, teils zuschanden gekommen waren.
Andrew Muller: Gott hab ihn selig, den verbrannten Mann. Simmon konnte, wenn er sich bemühte, den ätzenden Benzinhauch wahrnehmen, die züngelnden Flammen entdecken. Ja, jetzt sah er es erneut, das Bild: Gloria, Simmons Frau, und Muller, wie sie im engumschlungenen Behagen beieinanderlagen. Sie bemerkten beide seine Blicke nicht, so sehr waren sie füreinander da, bedeckten sich mit Küssen und Geständnissen. Schließlich, nach einigen Minuten des Lauschens, hatte Simmon den Benzinkanister aus der Garage geholt. Muller, diesen gebildeten, reichen Schönling, zu übergießen und anzuzünden, war eins gewesen. Dieser Feuerzauber von einst weckte angenehme Gefühle, das einschläfernde Prasseln und Lecken der Flammen, die Muller keine Gelegenheit gaben, irgendetwas zu erklären und zu beschönigen. Stattdessen war er rausgerannt, den idyllischen Sommertag zerstörend, und schließlich in einem Vorgarten verschmort.
Keine zehn Minuten später hatte die Polizei den in einer Zeitung lesenden Simmon verhaftet und Gloria beruhigt. Wo sie sich aufhielt, ob sie noch lebte und vielleicht manchmal an ihn dachte, wusste er nicht.
Mit einem Schulterzucken befreite sich Simmon von dieser Erinnerung, als er vor Mullers Grab stand. Es sah bescheiden und vernachlässigt aus. Ein schlichtes Holzkreuz mit dem Namen und einem Spruch drauf: „sanfte Ruhe“ und „Gott empfing ihn“ war alles, was Simmon davon noch lesen konnte. Neben dem gefrorenen Hügel aus Erde lag ein totes Kaninchen. Seine starren Augen blitzten im hellen Schein des Mondes.
So verweilte er ungefähr eine Stunde vor dieser Stätte, bis die Stille um ihn herum von einem weiteren Besucher zerrissen wurde. Muller, der eigentlich starr und zerfallen im Sarg liegen sollte, war gekommen, um die alte Schuld zu begleichen.
Simmon schaute ihm entgegen und war verwundert, wie gering seine Überraschung und sein Entsetzen diesmal waren, Muller durch das Buschwerk brechen und näherkommen zu sehen. Der Tote war ein Teil seines Lebens in Freiheit. Muller würde immer seine behäbige Begleitung sein, solange bis Simmons Flucht ein Ende hatte und er keinen Ausweg mehr wusste. Vielleicht war dies der Fluch aller Mörder: dass ihre Opfer gnadenlosere Jäger als sie selbst waren.
„Aber mich erwischst du nicht“, sagte Simmon und brachte ein Grinsen hervor, das vor zwei Jahrzehnten vielleicht einmal verwegen ausgesehen hätte. Er ging in die Hocke und griff den Kadaver des Tieres, der am Boden festgefroren und nur mit Gewalt zu lösen war. Er warf ihn direkt vor Mullers Füße. Dann ging er hinüber zur Mauer und erklomm sie trotz der Kälte, die seine Glieder fühllos machte, beinah mühelos. Als er rittlings auf ihr zu sitzen kam, schaute er zum Grab hinüber und sah – sein Magen revoltierte bei diesem Anblick -, wie Muller totes, rohes Fleisch aus dem Kaninchenkadaver riß und verschlang.
Er verlief sich zweimal, ehe er die Straße
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