Totenrache und zehn weitere Erzählungen
Simmon und nun hatte er ihn. Simmon fragte sich, ob Muller all die Jahre im Dämmerlicht des Waldes gestanden und auf ihn gewartet hatte.
Der Gedanke oder vielleicht der Schock der Begegnung lenkte ihn einen Moment ab. Simmon bemerkte zu spät, dass der Leichnam einen Schritt heranstapfte, dann noch einen und mit ausgestreckten Armen auf ihn zufiel. Er spürte einen brennenden Schmerz im weichen Fleisch seines Halses, als die zu Klauen gekrümmten Hände sich an ihm festzuklammern versuchten. Ungelenk taumelte Simmon ein, zwei Schritte zurück. Er spürte das Blut, das aus den Wunden strömte und im Mantelkragen versickerte. Vor ihm lag Muller, ein Bündel eiskaltes Totenfleisch, und kam langsam wieder hoch. Simmon starrte entsetzt und mit vor Panik und Schmerz verzerrtem Gesicht zu ihm hinunter und begriff nicht, was da geschah. Der Tag der neugewonnenen Freiheit war nichts anderes als die Fortführung des Schreckens. Hinter ihm waren die nackten, hässlichen Mauern, die das Staatsgefängnis umgaben. Für einen Moment überlegte er, ob er dort um Hilfe bitten sollte, aber er verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Er wollte sich nicht von Menschen helfen lassen, die nichts weiter als Verachtung wert waren.
Eine Berührung an seinem Fuß, spinnwebfein. Muller kam kriechend heran. Sein Mund stand halboffen, Simmon konnte die ins Eisengraue verfärbte Zunge sehen; seine gebrochenen Augen starrten Simmon absichtsvoll an.
Eine klamme Hand schien sich um Simmons Herz zu legen und es anzuhalten. Er spürte einen Stich in der Brust, als würde es nicht mehr schlagen und zu einem Gewebebrei zerfallen wollen. Er wußte, er war diesem Schrecken nicht gewachsen. „Nein!“, stammelte er. Muller kroch weiter, der offene Mund war ein Hohnlachen und ein tödliches Versprechen, genau wie die zu Krallen gekrümmten Hände. „Verschwinde!“ Simmon trat dem Monster ins Gesicht und hörte das leise Knirschen brechender Knochen. Mühsam beherrscht schluchzte er auf und deutete mit einer zitternden Hand nach Muller. „Du bekommst mich nicht. Ich werd dich noch einmal umbringen. Ich werd es wieder tun.“
Dann drehte er sich um und rannte davon, so schnell seine Beine es ihm erlaubten. Nach kurzer Zeit blieb er außer Atem stehen und blickte zurück. Er sah, dass Muller wankend auf die Füße gekommen war und ihm langsam folgte.
Beinah zufällig fand Simmon nach stundenlangem Herumirren in die Stadt zurück, von der er sich Hoffnung und Trost versprach. In diesem steinernen Geschling aus Straßen und Abwegen hatte er sich immer wohl gefühlt. Die Irrtümer der Bewohner machten die eigenen Fehler erträglicher als irgendwo in der Einöde.
Er blieb stehen, als er die Wandlung des Kaffs Drummond vor Augen hatte. Der Geruch zahlloser Menschen hing in der kälteflirrenden Luft, der eigenartige Hauch von Hast und Hunger. Simmon verfolgte ihren Weg in Geschäftsschluchten, die er nicht kannte. Vereinzelt lauschte er auch einigen halbgaren Gesprächen. Meist drehten sie sich um das unweihnachtliche Wetter, das zwar Kälte, aber keinen Schnee brachte, um die unverschämten Forderungen der Kinder, um Arztbesuche und Geldsorgen.
Das konnten nicht mehr die Menschen sein, die er mal geschätzt hatte, und seine Stadt war es auch nicht mehr. Sie sah falsch aus, bis zur Jungfräulichkeit saniert. Mit einem dumpfen Schwindelgefühl, wie wenn sich Stacheldraht um seinen Schädel geschlungen hätte, wandte Simmon sich ab, bewahrte seine Augen vor diesen Anblicken, die er nie kennengelernt hatte. Mit einem Mal sehnte er sich hinter die Mauern des Gefängnisses zurück, zurück in die Zelle, die seine Heimat geworden war, deren Gitter und Streben ihn schützten: vor den Lebenden und den Toten.
Das wäre besser, als ein Leben lang durch diesen Irrsinn zu waten, besser als die Hoffnung auf Erlösung.
Aber zunächst einmal, um sicherzugehen, wagte er sich tiefer ins Ungetüm hinein, begutachtete angewidert seine Läufe aus Asphalt, seine Wunden aus Eispfützen und seine Sklaven, die sich mit ihrer Last abmühten. Simmon erinnerte sich an die Namen der Straßen, die er passierte, aber ihre Gestaltung war nun eine völlig andere.
Ein Junge, kaum sechzehn, schätzte Simmon, näherte sich ihm. Sein breiter Mund, ein mauloffener, grellrot geschminkter Schlund, lächelte und lockte etwas Freundlichkeit hervor.
„Hallo, Süßer“, säuselte er, ohne sein Lächeln zu unterbrechen, „so ganz allein?“ Seine Arme umschlangen Simmon. „Is´ kalt heute,
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