Totenreigen
fragte Lüthje.
»Er versieht Bücher mit Signaturen und ordnet sie in die neuen
Regale ein. Außerdem sieht er regelmäßig alle anderen Regale in der Bücherei
durch, ob etwas falsch zurückgestellt wurde. Diese Bücher wären ja sonst für
uns fast nicht mehr auffindbar. Wir haben immerhin über achttausend Bücher. Es
macht Herrn Sundermeier offensichtlich Freude. Woher kennen Sie ihn?«
»Ich habe neulich mit seinem Vater gesprochen.«
»Ach so, ja. Dann …«, sagte die Bibliothekarin zögernd.
»Verraten Sie mir Ihren Namen?«, fragte Lüthje.
»Entschuldigung.« Sie hob ein kleines Faltkärtchen hoch, das auf dem
Tresen umgefallen war. »Iris Sternberg.«
»Ich muss mich entschuldigen, Frau Sternberg. Ich habe Ihr
Namensschild übersehen. Was ich fragen wollte … Wie kommen Sie denn so
miteinander klar, Sie und Herr Sundermeier?«
»Oh, sehr gut. Wenn ich zum Beispiel einen Gesichtsausdruck der
Unsicherheit zeige, kann er das nicht erkennen. Aber wenn ich ihm alles genau
beschreibe, was ich warum denke, funktioniert es. Irgendwie ist es schon
selbstverständlich für mich.« Sie lächelte unsicher.
»Ich ziehe mich dann mal zu meinen Studien zurück. Ich werde mich
ruhig verhalten«, sagte Lüthje und ging zurück in die Kinderbücherei.
»Wir schließen um achtzehn Uhr«, rief sie ihm nach.
Er setzte sich auf seinen Stuhl am Fenster. Lambert Sundermeier
sah kurz zu ihm hinüber, schien ihn aber nicht wiederzuerkennen.
Lüthje suchte sich aus der Laboer Chronik das Kapitel »Die Schule«
heraus. In den Text eingestreut waren Fotos von den Anfängen um 1900 bis in die
Neunziger. Er fand Fotos der Lehrerschaft aus den fünfziger Jahren, auf denen
er einige Lehrer aus seiner Zeit als Volksschüler um 1960 wiedererkannte.
Einige der älteren Lehrer hatten sich immer noch die stramme Körperhaltung
bewahrt, die man ihnen als junge Männer im Krieg beigebracht hatte; die rechte
Hand im nicht mehr vorhandenen Koppelschloss der Uniform, den linken Arm
angewinkelt hinter dem Rücken.
Auf einem Foto aus den Siebzigern hatte sich das Bild gewandelt.
Lange Haare, bunte Kleider, geschminkt die Damen, die Herren teilweise in
Anzügen mit Schlaghose. Und immer in Reihen auf einer Treppe aufgestellt, vor
der Schule oder im Treppenhaus.
Unter einem Farbfoto des Lehrerkollegiums von 1972 fand er sie in
der dritten Reihe. Sie war etwas verdeckt von einem groß gewachsenen Kollegen in
der zweiten Reihe, aber da sie auf den Zehenspitzen zu stehen schien, konnte
Lüthje sie gut erkennen. Die dick geschminkten Augen unter dem Pony voller
Lebenshunger und die blonden Haare bis über die Schultern. Ihr Name stand, wie
der der anderen Lehrer, unter dem Foto. Sie stand in der »3. Reihe von
links nach rechts«. Ursula Schedelgarn.
Lüthje klappte das Buch zu und sah auf. Lambert Sundermeier hatte
den Raum verlassen. Aus dem Flur hörte Lüthje leise Stimmen. Er ging vorsichtig
zur Tür und blieb im Türrahmen mit dem geöffneten Buch in den Händen stehen,
als hätte er etwas sehr Interessantes gefunden. Er beugte sich gerade so weit
nach vorn, dass er hinter dem Tresen Frau Sternberg und Lambert Sundermeier
leise miteinander reden sah.
Sie stand dicht vor ihm und suchte seinen Blick. Er schien ihr etwas
Kompliziertes zu erklären. Lüthje fielen seine roten Wangen auf. Ob er Frau
Sternberg schon einmal etwas vorgesungen hatte?
Lüthje trat vorsichtig einen Schritt in den Raum vor und ließ das
Buch fallen. Er murmelte ein »So was Blödes«, und während er zum Tresen ging,
sah er auf das Buch und wischte immer wieder mit dem Ärmel kopfschüttelnd auf
dem Cover herum. Lambert Sundermeier ging an ihm vorbei wieder in die
Kinderbücherei.
»Tut mir leid«, sagte Lüthje. »Ich war eingeschlafen. War wohl noch
nicht ganz wach geworden.«
»Die Ruhe und die Wärme waren das«, sagte Frau Sternberg
verständnisvoll lächelnd. Sie hatte einen rosigen Schimmer auf den Wangen.
»Was sind das eigentlich für Bücher, die Herr Sundermeier ordnet?«,
fragte Lüthje.
»Eine Schenkung. Eintausenddreihundertundfünfzig Bücher über die
Holsteiner Probstei und Laboe. Liedgut, plattdeutsche Anekdoten und Gedichte,
Reiseberichte mit alten Fotos, teilweise unbekannte Ausgaben, unglaublich«,
sagte sie schwärmerisch. »Das wird mehr als eine ganze Wand füllen. Wir müssen
überlegen, wie wir das in der Erwachsenenbücherei unterbringen. Dann müsste
aber etwas aus der Erwachsenenbücherei in die Kinderbücherei kommen.
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