Totenreigen
gebissen. Den Tag vorher ist er in einen Bus gestiegen und hat
versucht, Fahrkarten zu klauen. Direkt vor dem Fahrer! Darüber sollte der
Polizist nun ein Protokoll machen. Man wusste nicht, wie man mit dem Mann
umgehen soll.«
»Warum nicht?«
»Weil der noch nie solche Sachen gemacht hat. Er war einfach nur der
Dorftrottel.«
»Und weiter?«
»Der Polizeibeamte fragt ihn also aus. Und der Mann sitzt schräg vor
ihm am Schreibtisch und spielt dabei immer mit seiner Puppe herum, die auf
seinem Schoß sitzt. Und zieht plötzlich ein Skalpell aus der Puppe heraus und
sticht es dem Polizisten in die Kehle!«
»Ein Skalpell?«, fragte Lüthje. Skalpelle würde Brotmann als
Tatwaffe ausschließen. Die waren zu scharf.
»Das ist natürlich alles ausgedacht«, sagte Stoltenberg und griente
verlegen. Er wusste wohl nicht, wie er Lüthjes betroffene Miene deuten sollte.
»Und darüber reden die Leute hier im Supermarkt?«, fragte Lüthje.
»Ja! Verrückt, nich?« Stoltenbergs rechtes Augenlid zuckte.
Die Gemeindebücherei war schräg hinter der Polizeistation und in
zwei Klassenzimmern eines ehemaligen Schulgebäudes aus den achtziger Jahren
untergebracht, das man Beeke-Sellmer-Haus nannte. Lüthje ließ sich auf dem
Fahrrad nur ein paar Meter den Hang der Dorfstraße hinunterrollen, bog in einem
eleganten Schlenker nach links ein und kam direkt vor dem Eingang zum Stehen.
Beeke Sellmer war eine für ihre Zeit ungewöhnliche Frau und
Laboerin, die Lüthje wegen der über sie überlieferten Geschichten insgeheim
immer bewundert hatte. Sie segelte 1857 im Alter von neunundfünfzig Jahren in
einem acht Meter langen Boot von Laboe nach Kiel und begründete damit die erste
Fährverbindung. Mittwoch und Samstag. Bei Flaute ruderte sie. Ihr Reetdachhaus
stand bis vor ein paar Jahren an der Ecke Dorfstraße/Dellenberg und gehörte für
Lüthje zum Dorfbild. Obwohl es als Kulturdenkmal geschützt war, ließ man es in
den letzten Jahrzehnten leer stehen, bis es verfiel. Dann brannte die Hälfte
des Hauses ab. »Dat hett e’m brennen musst«, hatte Lüthje im Oberdorf gehört.
Es hat eben brennen müssen. Man machte die Brandruine dem Erdboden gleich. Auf
dem Grundstück baute man einen Wohnblock mit Eigentumswohnungen. Als jemand im
Gemeinderat mit großem Zuspruch an Beeke Sellmer erinnerte, machte man sich auf
die Suche nach einer würdigen Gedenkstätte. Der schicke Wohnblock, der
inzwischen auf dem geschichtsträchtigen Grundstück stand, wurde mehrheitlich
abgelehnt. So schmückte man schließlich ohne eine einzige Gegenstimme das
ehemalige Schulgebäude und ein Zimmer darin mit dem Namen Beeke Sellmers.
Die Türen zu den Leseräumen der Gemeindebücherei standen offen. Ein
Luftzug kühlte die von der Sonne aufgeheizten Räume. Im Flur zwischen den
beiden Klassenzimmern stand der Empfangstresen.
»Ist das immer so ruhig bei Ihnen?«, fragte Lüthje die
Bibliothekarin, die vor einem Computermonitor saß.
»Normalerweise ist um diese Zeit Hochbetrieb. Die Berufstätigen
haben Feierabend, und die Kinder sind mit den Schularbeiten fertig. Aber bei
dem Wetter sind sie alle am Strand. Wie kann ich Ihnen helfen?« Sie stand auf
und kam zum Tresen.
»Haben Sie eine Laboer Chronik?«
»Mehrere.« Sie ging in den Leseraum links neben dem Tresen, blieb
vor einem Regal stehen und suchte. »Hier finden Sie Bücher zur Laboer
Ortsgeschichte …«
»Die Ausgabe von 2005 hab ich auch zu Hause stehen«, sagte Lüthje.
»Ich hörte, dass es eine erweiterte Auflage mit mehr Fotos geben soll.«
»Sie haben Glück, sie ist nicht ausgeliehen.« Sie zog das schwere
Buch aus dem Regal und gab es ihm.
»Haben Sie ein kühles Plätzchen für mich, wo ich mal in dem Buch
blättern kann?«
»In der Kinderbücherei auf der anderen Seite des Flures. Die Fenster
gehen nach Norden und sind leicht angekippt. Da scheint die Sonne nie rein.
Nehmen Sie sich einen Stuhl mit, da drüben stehen nur Kinderstühle.«
Als Lüthje mit Buch und Stuhl in die Kinderbücherei kam, sah er auf
der gegenüberliegenden Seite des halb leeren Raumes ein paar Schultische, auf
denen Bücher gestapelt waren. Ein Mann ging mit einem Bücherstapel zwischen
mehreren halb leeren Regalen hin und her. Es war Lambert Sundermeier. Lüthje
stellte den Stuhl an ein Fenster, legte das Buch ab und ging zurück zur
Bibliothekarin.
»Ich möchte Herrn Sundermeier nicht stören«, sagte Lüthje.
»Sie kennen ihn?«, fragte sie erstaunt.
»Flüchtig. Was genau macht er da?«,
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