Totenreigen
war.
Hier begannen Kapitäne, erfolgreiche Marinemaler und adlige
Offiziere, reiche Ärzte und Fabrikanten, ihr Geld in repräsentative Häuser zu
investieren. Die beauftragten Architekten bauten so, wie es Geschmack und
Geldbeutel des Bauherrn erlaubten. So entstand hier ein Sammelsurium von
verschiedenen Baustilen der Epoche. Vom Schwarzwälder Bauernhof bis zur
schwedischen Holzvilla. Erlaubt war, was gefiel. Seit den siebziger Jahren
wurde ein Haus nach dem anderen abgerissen oder bis zur Unkenntlichkeit
entkernt und umgebaut, Eigentumswohnungen im »modernen Stil« entstanden, um den
»Bedürfnissen der modernen Zeit« zu entsprechen.
Die Häuser Sundermeier, Drübbisch und Klockemann waren die letzten,
die den Stil der alten Strandstraße repräsentierten, die Lüthje in ihrer Urform
noch aus seiner Jugend in den Sechzigern und Siebzigern kannte. Die Bewohner
dieser Häuser hatten mit ihren Häusern, so unterschiedlich sie waren, für
Lüthje etwas gemeinsam: Sie erschienen ihm wie Relikte aus untergegangenen
Zeiten, bei denen die Wunden, die das Leben ihnen zugefügt hatte, schlecht oder
gar nicht vernarbt waren und ihnen ewig eiternde Qualen zufügten.
Nach dem Krieg war das Dorfviertel der Flüchtlinge entstanden, das
als solches leicht an den typischen Siedlungshäusern der »Neuen Heimat« zu
erkennen war, in den neu angelegten Straßen östlich und südlich der Mühle. Hier
war Lüthje geboren worden und aufgewachsen.
Die Bewohner der Ortsteile Unterdorf, Oberdorf, Flüchtlingsdorf und
der Strandstraße verkehrten damals nur untereinander. Deshalb wusste Lüthje
wenig oder nichts von den Bewohnern der Strandstraße, wie den Sundermeiers,
Klockemanns und Drübbischs. Er hatte nur eine vage Erinnerung an Jochen
Klockemann und Horst Drübbisch.
Lüthje packte Pappteller, Besteck, den restlichen Fisch und die
Brötchen in die Plastiktüte und verknotete sie, wusch sich die Hände im
Salzwasser, titscherte einen Stein über das Wasser und war stolz, dass der
Stein immerhin sieben Aufschläge machte, bevor er versank. Schönes Arbeiten,
dachte Lüthje. In einem Dienstzimmer konnte er weder Räucherfisch essen noch
Steine titschern.
Er trank einen großen Schluck aus der Bierflasche und begann, in der
Neuauflage der Laboer Chronik nach Spuren des Horst Drübbisch und Jochen
Klockemann zu suchen, die als Nachbarjungen aufgewachsen waren und deren Mütter
darüber so wenig erzählen konnten oder mochten.
Die Jungen mussten beide die Volksschule besucht haben, und sie
waren zumindest im Fußballverein gewesen, daran hatte Lüthje eine dunkle
Erinnerung, denn er war selbst Mitglied seit seiner Kindheit. Allerdings war er
über fünfzehn Jahre älter als die beiden.
Aber Lüthje fand die beiden schließlich auf einem Foto, wo er es
nicht vermutet hätte. Das Foto zeigte einen Ausschnitt des vollen Biergartens
an einem sommerlichen Abend vor der Gaststätte Bandholz in der Dorfmitte.
Lüthje konnte sich gut an den Wirt Klaus Krüger erinnern, der bekannt war für
seine »Riemels un Döntjes«, seine plattdeutschen Gedichte und Anekdoten, mit
denen er die Gäste zu später Stunde unterhielt. Lüthje erkannte auf dem Foto
Klockemann und Drübbisch als schlaksige Teenies. Sie saßen an einem Gartentisch
voller Biergläser mit Gleichaltrigen, die alle ein T-Shirt mit dem Symbol des
Sportvereins trugen.
Klockemann versuchte gerade, dem neben ihm sitzenden Drübbisch eine
Zigarette mit einem Feuerzeug anzuzünden. Drübbisch hatte die Zigarette im Mund
und saß von Klockemann halb abgewandt. Klockemann war von seinem Stuhl
aufgestanden und musste sich zu Drübbisch hinüberbeugen, um dessen Zigarette zu
erreichen. Eine untertänige Geste.
Eine Erinnerung stieg in Lüthje auf.
Es war ein Sportfest, vielleicht der Sommer, in dem das Foto
aufgenommen worden war. Lüthje hatte nach Langem wieder als Schiedsrichter im
Fußballverein ausgeholfen. Man hatte ihn angerufen, und er hatte zufällig Zeit
gehabt. Das Probsteier Fußballturnier sollte in dem Jahr in Laboe stattfinden.
Nie wieder hatte der Stoschplatz am Blauen Blick so viele Zuschauer gesehen.
Anlässlich des gleichzeitig im ganzen Land stattfindenden
Schleswig-Holstein-Tages gab es in Kiel ein Chortreffen. Zwei Mädchenchöre
kamen nach Laboe, um in den Pausen auf dem Fußballplatz zu singen, später in
der Konzertmuschel am Strand. Danach hatten die Mädchen Freizeit bis zum Abend.
Abends war das Dorf voller pubertierender Jugendlicher, die das
Abenteuer
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