Totenreigen
und den Alkohol suchten. Lüthje lief als einer der Ordner durchs
Dorf, da die örtliche Polizei überfordert war.
Bei einem Kontrollgang über das Schulgelände sah Lüthje einen
Auflauf vor dem Eingang zu einem der inzwischen abgerissenen Schulgebäude. Im
Keller befanden sich die Umkleideräume für die Mädchen. Auf der Treppe standen
Jungen und Mädchen bis in den Keller Schlange und tuschelten.
»Der Horst Drübbisch ist da drinnen mit einer vom Chor«, sagte ihm
jemand. Und alle wollten von dem Ereignis etwas mitbekommen.
Als Lüthje sich fast bis zur Tür durchgekämpft hatte, ging sie auf,
und ein Pulk von Jungen und Mädchen drängte hinaus und verschwand im Gedränge
nach draußen. Der Umkleideraum war leer, als Lüthje ihn durchsuchte.
Er zeigte den Vorfall bei der örtlichen Polizei an und gab alles zu
Protokoll. Als er ein halbes Jahr später dort anrief, um sich zu erkundigen,
was aus der Sache geworden sei, hörte er, dass ein Junge mit dem Namen Jochen
Klockemann gestanden hätte, dass nicht Horst Drübbisch, sondern er das Mädchen
vergewaltigt hätte. Danach hatte aber das Mädchen seine Aussage widerrufen.
Lüthje war sich sicher, dass Jochen Klockemann damals für seinen
Freund Horst Drübbisch die Schuld auf sich genommen hatte. Wie sie es geschafft
hatten, das Mädchen zum Gedächtnisverlust zu überreden, hatte er nie erfahren.
Jochen Klockemann hatte Lüthje bei der Befragung auf dem Friedhof
Eichhof einmal seltsam angesehen. Mochte sein, dass der Funke einer Erinnerung
an Lüthjes Gesicht in ihm aufglühte … und gleich wieder verlosch. War auch
besser so.
»Guten Tag, Herr Lüthje, darf ich mich ein paar Minuten zu Ihnen
setzen?«
Ein Mann mittleren Alters, schlank und groß, mit ausgeprägten
Wangenknochen, stand plötzlich vor ihm. Ein Ausweis hing an einem
silberfarbenen Schlüsselband um seinen Hals.
»Nein!« Lüthje stand auf.
»Warum nicht?«
»Erstens: Sie tragen eine Waffe. Zweitens: Wer sind Sie, und was
wollen Sie?«
»Woher wissen Sie von der Waffe?«
»Ihre Körperhaltung verrät es.«
»Was ist damit?«
»Sie ist falsch. Das muss Ihnen genügen. Sie haben ein Schulterholster
unter dem linken Arm. Setzen Sie sich vor mich in den Sand. Sie haben meine
zweite Frage noch nicht beantwortet.«
»Ich heiße Jörg Baginski und habe heute oben am Ehrenmal die
Sicherheitsvorkehrungen überprüft.«
»Reichen Sie Ihren Plastikschmuck herüber.«
Er nahm sein Schlüsselband ab und reichte es Lüthje.
Steuerungsgruppe X . Jörg Baginski. Links ein
eingedrucktes Foto. Rechts ein Scancode.
»Sehr eindrucksvoll. Einigen wir uns also auf den Namen Baginski,
Herr Baginski. Ich möchte aber noch Ihren Personalausweis sehen.«
Baginski zog ihn aus der Jacke seines blauen Leinenanzugs. Das
schien während dieser Kieler Woche der Dresscode der Eingeweihten zu sein. Im
Personalausweis stand auch der Name »Baginski«. So weit, so gut.
»Danke«, sagte Lüthje und gab ihm Schlüsselband und Personalausweis
zurück.
Lüthje setzte sich wieder in den Strandkorb. »Wie ist Ihre
Besoldungsgruppe, und für wen arbeiten Sie?«
»Antwort auf Frage eins: Besoldungsgruppe B 9. Antwort auf Frage
zwei: für die Bundesrepublik Deutschland.«
»Dann würden Sie als Ministerialdirektor hier im Sand vor mir
sitzen. Oder soll ich sagen ›Generalleutnant‹? Und die Antwort auf die zweite
Frage finde ich originell. Deswegen überspringen wir das. Was wollen Sie von
mir?«
»Ich bin der Nachfolger von Horst Drübbisch«, sagte Baginski.
»Interessant. Es beantwortet aber meine Frage nicht.«
Baginski griff wieder in seine Jacke und gab Lüthje ein
zusammengefaltetes Blatt Papier.
»Kein USB -Stick? Keine CD ? Sie enttäuschen mich«, sagte Lüthje.
»Sie müssten sonst damit rechnen, dass wir Ihnen etwas auf den
Rechner laden.«
»Unserem Spezialisten im LKA ? Sie
kennen ihn offensichtlich nicht.«
Lüthje faltete das Papier auseinander. Es enthielt eine Liste von
elf Namen. Der oberste Name lautete ›Jörg Baginski‹.
»Was ist das?«, fragte Lüthje.
»Eine Liste der Kollegen von Horst. Damit Sie nicht lange danach
fragen müssen. Das sind … waren die Arbeitskollegen von Horst Drübbisch. Als
wir hörten, dass Ihre Mitarbeiter danach her umtelefonierten, habe ich eine
Aufstellung machen lassen.«
»Ich bin zu Tränen gerührt. Was glauben Sie, was ich von einer
Zeugenliste halte, die mir der Nachfolger des Opfers gibt? Und ohne Adressen?«
»Erste Frage: Ich wollte damit
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