Totenreigen
Lüthje.
»Genau das passiert auch in Ihrem Kopf, wenn der Stapel eine
bestimmte Höhe überschritten hat. Eine Höhe, die Ihr Arbeitsspeicher im Kopf
nicht bewältigen kann. Sie vergessen es. Das ist ein Absturz. Danach hat Ihr
Arbeitsspeicher im Kopf wieder Platz.«
»Das beruhigt mich«, sagte Lüthje. »Und ich dachte, ich werde alt.«
»Das spielt natürlich auch eine große Rolle«, sagte Lambert
Sundermeier mit unbewegtem Gesicht.
Lüthje schluckte. »Darf ich fragen, was Sie da am Computer machen?«
»Ich kontrolliere die Signaturen.«
»Er lässt sie einfach vor seinen Augen vorbeilaufen …«, sagte Frau
Sternberg, »… und sieht sofort, ob eine Signatur in unserer Datenbank
falsch geschrieben ist oder fehlt.«
Sie sah Lambert versonnen an. Für einen kurzen Augenblick erwiderte
er ihren Blick und nahm dann seine Arbeit wieder auf.
»Das Buch da auf Ihrem Schreibtisch, Frau Sternberg«, sagte Lüthje
überrascht. »Ist das nicht ein Dostojewski? Eine relativ neue Auflage, mit dem
Titel ›Verbrechen und Strafe‹?«
»Ja, Sie haben recht.« Sie zeigte ihm den Einband. »Eine der vielen
Buchspenden, die wir immer bekommen.«
»Von wem ist diese Spende?«, fragte Lüthje ahnungsvoll.
Frau Sternberg verzog das Gesicht schmerzhaft. »Von Frau Klo
ckemann. Strandstraße.«
Lambert Sundermeier unterbrach seine Arbeit wieder.
»Wann war sie da?«, fragte Lüthje.
»Kurz bevor ich die Tür abgeschlossen habe«, sagte Frau Sternberg.
»Sie wäre Ihnen also fast über den Weg gelaufen.«
Also nachdem ihr Sohn sie von seiner Verhaftung am Telefon informiert
hatte, dachte Lüthje.
»Erzählen Sie mir bitte genau, was sie gesagt hat.«
Frau Sternberg sah Lambert Sundermeier an. »Sie hat gesagt, dass es
ein Buch des Teufels sei und wir es in den Giftschrank stellen sollten. Das
waren ihre Worte, nicht wahr, Lambert?« Sundermeier nickte. »Ich habe recht
herzlich für diese Spende gedankt«, fuhr Frau Sternberg fort. »Und weg war sie.
Fast so schnell wie eine Hexe.«
»Das hört sich gar nicht gut an«, sagte Lüthje nachdenklich.
»Sie ist mir unheimlich. Und sie ist eine Nachbarin von Lambert und
seinem Vater.«
»Ja, ich weiß«, sagte Lüthje. »Bitte rufen Sie mich an, wenn Sie
wieder auftaucht und dummes Zeug redet. Benutzen Sie am besten die Handynummer,
dann haben Sie mich sofort dran.« Er gab ihr seine Visitenkarte. »Hier, für Sie
auch eine Karte, Herr Sundermeier.«
Lambert Sundermeier kam zum Tresen und nahm die Karte entgegen.
»Iris, sie kann dir nichts tun, ich werde dich beschützen«, sagte er
und speicherte gleichzeitig die Telefonnummer in seinem Handy.
»Danke, Lambert, das weiß ich.« Sie wandte sich wieder zu Lüthje.
»Morgen ist Generalprobe am Ehrenmal. Kommen Sie auch? Nur Laboer dürfen
zusehen, gratis. Sie sind doch Kommissar und kommen überall rein.«
»Ich bin nicht so für Opern. Die einzige Arie, die ich mag, ist das
›Nessun dorma‹, das Sie, Herr Sundermeier, so herrlich singen können. Ich habe
Sie im Ehrenmal gehört«, sagte er zu Lambert Sundermeier gewandt.
»Ich will es morgen wieder im Ehrenmal singen«, sagte Lambert. »Wenn
draußen die Generalprobe läuft.«
»Ich gehe mit meinen Eltern hin«, sagte Iris Sternberg. »Wir treffen
uns da mit Lamberts Vater. Sie kennen sich noch nicht, und Lambert und ich
dachten, es wäre schön, wenn sie sich bei so einem Ereignis kennenlernten. Die
Karten für die Aufführung am Samstagabend sind ja schon lange ausverkauft.«
Sie sah Lambert fröhlich an. Er nickte mit einem Ausdruck, den
Lüthje nicht recht deuten konnte. War es Stolz?
10.
Lüthje beschloss, im Strandkorb zu Abend zu essen. Er
parkte den Wagen vor seinem Haus und radelte zum Hafen. Da die mobile
Fischräucherei wegen »alle« die Schotten schon dicht gemacht hatte, ließ er
sich im Fischrestaurant am Hafen vier Heringsfilets und Kartoffelspalten mit
Rosmarin einpacken und steckte sich zehn Servietten in einem unbeobachteten
Moment in den Rucksack.
Im Strandkorb tupfte er die in Butter gebratenen Filets und die
Kartoffelspalten so lange mit den Servietten ab, bis sie ihm fettfrei
erschienen. Als er gegessen hatte, spülte er seinen Mund mit dem letzten
Schluck Tee fettfrei, der noch in der Thermosflasche war, bevor er ihn
herunterschluckte.
Er griff zum Handy und wählte Malbeks Nummer. Nach vier Versuchen
gab er auf. Hilly dagegen erreichte er nach dem zweiten Versuch. Im Hintergrund
hörte er Straßengeräusche.
»Hallo, Eric, ich
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