Totenruhe
Wenn man deren Kräfte bei aller Unterschiedlichkeit bündelte, könnte die Städtische Friedhofsverwaltung schon mal spüren, was eine Harke ist. Ich werde sie einladen, um gemeinsame Interessen auszuloten, beschloss Sauerbier. Ihn trieb es heute schneller heim als jemals zuvor. Nach einer Serie von Telefongesprächen hatte er eine Reihe von Interessenten-Namen und ihre Mail-Adressen. Nur die Satanisten hatten keine und keiner kannte sie namentlich, was Sauerbier weder verwunderte noch bedauerte. Er ließ sich den folgenden Mittwoch als Veranstaltungstermin im Kulturladen Selmastraße eintragen und verschickte dann seine Mails zu einer Informationsveranstaltung der Bürgerinitiative »Rettet den Bergfriedhof«.
6.
Die Versammlung fand reges Interesse, der Kulturladen war brechend voll. Auch die örtliche Presse war gut vertreten. Das Zusammentragen der unterschiedlichen Interessen verlief weniger chaotisch, als Sauerbier befürchtet hatte. Lindemann wurde zum Protokollführer ernannt, damit keine Idee verloren ging. Die einzelnen Gruppen und Ein-Personen-Bewegungen formulierten ihre Anliegen mit rührender Dringlichkeit. Sauerbier lobte jeden einzelnen Denkansatz und nannte die Verwirklichung der verschiedenen Anliegen »Schritt Nummer 2«. Schritt Nummer 1 sei, unter Hintanstellung der jeweiligen Ziele den gemeinsamen Kampf für den Friedhof und gegen die engstirnige Verwaltung aufzunehmen. Man stimmte ihm allgemein zu. Ausschlaggebend war schließlich die Meinung des Lindener Urgesteins Heinz Wecke. Er war bei allen Gruppierungen hoch angesehen und genoss die Woge von Vertrauen, die ihn trug. »Wir machen das so. Gründung der Bürgerinitiative hier und jetzt unter der Bedingung, dass Pastor Sebastian Sauerbier Leiter und Sprecher wird.«
Sauerbier schluckte vor Aufregung, als allgemeiner Beifall aufbrandete. Er fügte sich schließlich ohne Widerwillen und bekannte unter dem Gelächter der Versammlung: »Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand.«
Anschließend trugen sich Mitarbeitswillige in eine Liste ein. Sauerbier kreuzte die Wichtigsten an. Da war der Friseur Aufderheide, der Lehrer Zumdick, der Bestatter Krause vom Beerdigungsinstitut Himmelfahrt, die Bezirksratsfrau Klopp und Steinmetz Sellner, der gut situierte Bürger Werendt und der ewige Schützenbruder Kilian. Heinz Wecke und natürlich Lindemann. Das waren echte Meinungsführer in Linden, wusste Sauerbier, auf die musste er sich stützen. Ein paar Frauen zusätzlich wären auch nicht schlecht, schon aus dekorativen Gründen, wenn man denn bei öffentlichen Veranstaltungen einen Präsidiumstisch gestalten müsste, mit ihm in der Mitte. Sauerbier hatte ein klares Bild von seinem Verein, der natürlich auch in die Arbeitsgemeinschaft Lindener Vereine eintreten würde, um seine Breitenwirkung zu erhöhen. Besonders wichtig war ihm Joachim Werendt. Der gehörte zu den Vermögenden. Man sagte, er habe mit Aktien viel Geld gemacht. Das wäre also einer, der die nötigen Euro für Werbematerialien spenden könnte. Auf eine erste Anfrage hatte er Sauerbier fünfhundert Euro ohne Quittung in die Hand gedrückt. Mehr habe er nicht bei sich, aber er würde sich für das gemeinsame Anliegen nicht lumpen lassen. Eine Quittung am Jahresende für die Steuer wäre nicht schlecht. Sauerbier versprach es hochbeglückt.
Als er auf dem Heimweg Lindemann nach seinem Eindruck fragte, grinste der heimtückisch: »Ich und du, Müllers Kuh und Müllers Esel, das bist du.«
7.
Die Badenstedter Straße ist ein vielbefahrener Verkehrsweg zwischen Linden und den westlichen Vororten. Auf der nördlichen Seite sind kleinere Industriebetriebe die Anrainer, auf der südlichen, oberhalb einer buschbewachsenen Böschung, der Lindener Bergfriedhof. Eine lange Mauer aus Ziegelsteinen grenzt ihn vom tiefer liegenden Fußweg, einem Radweg und der Fahrbahn ab. Am Ende des Friedhofs beginnt der Schulbotanische Garten und ein gleichnamiger schmaler Fußweg trennt beide Gelände, führt hinauf auf den Lindener Berg. Hier ist der Friedhof durch einen Maschendrahtzaun begrenzt. Nach wenigen Metern finden Ortskundige eine Tür, durch die man ihn betreten kann. Dieser Hintereingang führt in den unbenutzten Westteil der Anlage, wo alle Gräber längst eingeebnet sind und die Natur mit urwüchsiger Kraft ihrem Gestaltungsauftrag nachkommt. Sparmaßnahmen im öffentlichen Haushalt veranlassten das Friedhofsamt, die Wege nur notdürftig freizuhalten und die Wiesen nur
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