Totenruhe
interessierte Zuhörerin, der er wohl kaum Neues verraten hatte. »Und dann also 1862. Lindens Industrie boomte. Die Stadt, die formell damals noch ein Dorf war, entwickelte sich rasant. Also stiegen die Grundstückspreise und irgendwann kam ein schlauer Geldmann auf die Idee, der Kirche den Friedhof als Bauland abzukaufen. Heute stehen da Wohnhäuser und die Parkanlage, nur vor Egestorffs Ruhestätte hatte man Respekt. Er war eben einer der Ihren. Als Ersatz gab es das Gelände hier auf dem Berg. Ende des Geschichtsunterrichts.«
»Nein, halt. Wie lief denn das weiter …?«
»Der Bergfriedhof wurde als öffentlicher städtischer Friedhof angelegt. Nun galten nicht mehr die Regeln der Frömmigkeit, sondern die neuen Regeln des Besitzes. Schon bei der Planung der Friedhofsanlage 1862 sind am Platz vor der Kapelle die Erbbegräbnisse der reichen Familien von Alten, Niemeyer und so weiter eingetragen. Sie belegten die Hauptwege. Die Nebenwege ließ man dem Mittelstand; für die Besitzlosen blieb das abgeschirmte Gelände hinter Hecken und Büschen.«
Beide schwiegen. Die Sonne stand inzwischen tief im Westen und die Bäume warfen immer längere Schatten. Auf der Badenstedter Straße heulte ein Fahrzeug mit Sirene vorbei. Polizei, Feuerwehr, Rettungswagen? Vom Friedhof aus war nichts zu erkennen. Anschließend würde womöglich wieder ein Totenschein ausgestellt. Monika störte Lindemanns Gedanken. »Wollen wir nicht bald gehen? Ich möchte hier nicht die Nacht erleben.« »Ein Friedhof ist ein sicherer Ort«, belehrte Lindemann die Freundin. «Tote tun nichts und für Lebende ist da nichts zu holen.«
»Aber im Dunkeln ist es hier gruselig.« Ja, dachte Lindemann, da sitzt irgendetwas tief in unserem Unterbewusstsein und lässt uns an dämmerigen Grabsteinen schaudern. Er versuchte, die Freundin mit einer Anekdote von Mark Twain zu beruhigen.
»Ich habe da mal eine nette Geschichte gelesen. Der Schriftsteller Mark Twain wurde um Geld für einen Friedhofszaun angesprochen. Er lehnte mit der Bemerkung ab, dass ein Friedhof keinen Zaun bräuchte. Denn wer drin sei, komme nicht wieder heraus und wer draußen sei, wolle nicht hinein. Was sagst du?«
Die beiden verließen ihre Bank und gingen quer über den Friedhof in Richtung Haupteingang. Nur ein einzelner Mann war in der Ferne zu sehen. Ein Hut verdeckte sein Gesicht. Mit einem Spazierstock stocherte er am Sockel des Friedensengels herum, einem anerkannten Kunstwerk des Bildhauers Carl Gundelach aus dem Jahre 1884. Monika und Lindemann blieben hinter einem Busch stehen und beobachteten den Mann. Er trug eine Sommerjacke, eine leichte Hose und Sandalen. Der Hut bildete einen merkwürdigen Kontrast.
»Was ist an dem Friedensengel so interessant?«, wollte Monika wissen. »Nun, zuerst der Künstler«, dozierte Lindemann. »Gundelach war Sohn eines Lindener Webers. Der war so gut, dass er bis zum Kunstprofessor aufstieg. Den Titel hat er gar aus der Hand des Kaisers Wilhelm Zwo bekommen. Eine damals seltene Karriere für einen Arbeitersohn.« »Das erklärt nicht, was der Mann da macht.«
Der Hutträger war inzwischen mühsam auf den Rand des Brunnens gestiegen, in dem der Engel stand. Er war sicherlich schon älter, langsame und schwerfällige Bewegungen deuteten darauf hin. Gezielt stocherte er mit seinem Stock am Sockel der Figur herum. Ein Kunstfreund? Welche Erkenntnisse konnte er durch seine merkwürdige Kunstbetrachtung gewinnen? »Man kann nicht alles begreifen, was Menschen tun«, resümierte Lindemann. »Hätte er wenigstens einen Spaten und eine Urne dabei, wäre er der Propaganda Pastor Sauerbiers auf den Leim gegangen. Hat er aber nicht. Auch gut. Der Mann stört uns nicht, also stören wir ihn auch nicht. Lass uns gehen.«
»Ja, diesmal zu mir.« In Lindemann kam Vorfreude auf. Ohne Weiber ist die ganze Chose nichts, wusste er.
Die Sonne war inzwischen auf ihrem tiefsten sichtbaren Punkt angelangt. In einigen Minuten würde sich der Friedhof in Dunkelheit hüllen. Als sie das Haupttor passierten, stand da nur ein einsamer knallroter Peugeot 208.
8.
Stokelfranz wohnt im gleichen Haus wie Lindemann, ebenso die altersweise Rentnerin Oma Kasten aus dem ersten Stock. Stokelfranz war seit Jahren zwangsweise im Hafen von Hartz IV angedockt worden, was zu Mängeln in seiner erwünschten Lebensgestaltung führte. Hin und wieder ließ er deshalb, um beim Bild vom Dock zu bleiben, ein Beiboot zu Wasser, um auch mal eine Kiste Bier, Tabakwaren und eine
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