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Totenruhe

Totenruhe

Titel: Totenruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Jörg Hennecke
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Flasche Korn zu fischen. Nebenverdienst nannte sich das ganze sogar amtlich, und der war bis zu 100 Euro pro Monat erlaubt. Und so begab es sich, dass Stokelfranz in jedem Monat mit sicherer Präzision zusätzliche 100 Euro erwarb. Seine Jobs waren in allen Fällen durchaus legal, auf krumme Touren würde sich der Mann nie einlassen. »Außer es geht um mehr als hunderttausend. Dann kann man darüber reden«, verkündete er zuweilen grinsend am Biertisch.
    Stokelfranz hatte einen Auftrag bei Cordes ergattert, dem jüngsten Spross einer einst einflussreichen Industriellen-Familie in Linden. Die verfügten noch über eine prunkvolle Grabstätte auf dem Bergfriedhof, geziert von einem Engel aus Marmor, der mit seiner Lanze ein unheimliches Kriechtier durchbohrte. Darunter befanden sich zwei Grabsteine aus dem gleichen Material, auf dem jeweils drei Mitglieder der Familie Cordes als geboren und schließlich auch verstorben gemeldet wurden. Stokelfranz schaute fragend auf das Gesamtkunstwerk und wurde nachdenklich. Zwei Grabsteine, zwei Gräber und sechs Verstorbene? Die reiche Familie Cordes mit prächtiger Ruhestätte und darunter ein Massengrab? Hatte man die Familienmitglieder etwa der Reihe nach übereinander beerdigt? Schließlich ging es hier nicht um Urnen, sondern um klassische Särge zur ›Ganzstück-Entsorgung‹, wie Stokelfranz das nannte. Vielleicht starb man im Hause Cordes auch so, dass der vormals Beerdigte rechtzeitig zu Staub verfallen war, genau wie seine hölzerne Hülle. Die Jahreszahlen auf dem Stein ließen diese mögliche Erklärung durchaus zu. Andererseits geht mich das überhaupt nichts an, dachte Stokelfranz. Der alte Cordes hatte ihn angeheuert, dem Grabmal eine Runderneuerung angedeihen zu lassen. Der Marmor sollte gesäubert werden, die Verankerung des Engels ließ zu wünschen übrig und die Beete vor den beiden Grabsteinen wären für eine gärtnerische Hand außerordentlich dankbar. Dann hatte Cordes noch einen geheimnisvollen Zusatz gemacht, den Stokelfranz nicht ganz verstand. Er solle bei seinen Arbeiten achtsam sein, ob da vielleicht irgendwo noch andere Spuren seiner Vorfahren erkennbar wären. Manchmal seien Gräber auch Archive der Familiengeschichte. Stokelfranz solle bei der Bodenbearbeitung durchaus mal etwas tiefer gehen, als die Pflanzen es erforderten. ›Bis zum Sarg?‹ hatte der entsetzt gefragt. Nein, nein, Cordes wehrte händeringend ab. Die Totenruhe müsse gewahrt bleiben. Vertrauensvoll hatte Cordes nur noch angemerkt: »Sie haben doch geschickte Hände und offene Augen.« Selbstredend hatte er die, doch Stokelfranz zog Aufträge vor, die eindeutiger formuliert waren. ›Fällen Sie den Kirschbaum, roden Sie die Wurzel und graben Sie den Acker um‹ – das war eine Dienstanweisung im Vormonat gewesen, die jegliche Nachfrage erübrigte. Und hundert Euro waren immer hundert Euro, egal wie der Auftrag formuliert war.
    Stokelfranz wollte nach seiner groben Bestandsaufnahme mit einer Pause beginnen, hatte belegte Brote und eine Flasche Bier schon ausgepackt. Da sah er etwas komplett Schwarzes auf sich zu kommen. Auf dreißig Metern Entfernung erkannte er Oma Kasten aus dem ersten Stock. Stokelfranz ließ die Bierflasche wieder in seiner abgewetzten Aktentasche verschwinden und grüßte die alte Dame mit einer Verbeugung. Die freute sich ganz offensichtlich, ein bekanntes Gesicht zu sehen. »Sind Sie unter die Totengräber gegangen?«
    »Nee, nee, Oma Kasten, für den Totengräber gibt es hier derzeit nichts zu tun. Ich reinige für Cordes den Marmor. Und Sie? Verstorbene Verwandte besuchen?«
    Oma Kasten seufzte. »Ich wünschte, es wäre so. Aber die Gräber sind alle längst platt gemacht und meinen Mann musste ich schon in Ricklingen auf dem Großfriedhof beerdigen.«
    »Also ein Spaziergang an der saubersten und gesündesten Luft in Linden.« Oma Kasten lachte verschmitzt und kam näher an Stokelfranz heran, als wolle sie ihm ein Geheimnis verraten.
    »Ich besuche hier trotzdem meinen verstorbenen Mann. Aus Protest fahre ich nicht nach Ricklingen. Wissen Sie, mein Mann ist irgendwo im Himmel und da bleibt es doch egal, wo ich an ihn denke. Ich habe es mit Gott geklärt, in einem längeren Gebet.« »Und der war einverstanden«, vermutete der belustigte Stokelfranz. »Ja, sicher. Das hat er mir deutlich zu verstehen gegeben. Mit einem ganz merkwürdigen Kreuz an der Kapelle. So etwas haben Sie noch nicht gesehen. Eben ein eindeutiges Zeichen. Das Kreuz war schief

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