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Totenruhe

Totenruhe

Titel: Totenruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Jörg Hennecke
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schwarzgekleidete ältere Damen, die sich vermutlich um die Gräber ihrer verblichenen Ehemänner kümmerten. An der Kapelle entdeckte er auf der abgelegenen Seite das Kreuz. Es war mit schwarzer Kreide gemalt und sah eher so aus, wie Kinder ihre Umgebung mit Malerei bedeckten. Satanisten? Vielleicht hatte es der Zeitungsmann selbst gemalt, um eine Story zu haben. Und der blinde Friedhofsspaziergänger Hirsch war ein williger Zeuge vor Ort. Immerhin war das Kreuz so groß, dass sogar er es erkennen musste.
    Sauerbier war empört. Vandalismus an einem bedeutsamen neogotischen Bauwerk des damals berühmten Architekten Conrad Wilhelm Hase. Die Kapelle bestand nur aus einem einschiffigen Raum, bedeckt von einem Satteldach. Im hinteren Gebäude teilte eine Querwand mit spitzbogiger Altarnische eine Leichenkammer ab. Daneben lag die Umkleidekabine des Pastors. Unbefugten Zutritt versuchte das Gebäude durch eine schmiedeeiserne Tür zu verhindern. Schlüssel besaß nur das Städtische Friedhofsamt. Die Hintertüren waren mit derben stählernen Scharnieren gesichert. Auch dort war ein Eindringen ziemlich unmöglich. Blieb nur das Dach. Über das Dach könnte man einsteigen. Dazu müsste man Hilfsmittel oder Helfer haben und einigermaßen sportlich sein. Sauerbier war es nie gewesen. Er mied Betätigungen an der körperlichen Leistungsgrenze. Bei Bier und Wodka lotete er dieses Limit aber doch schon mal aus, das war allgemein bekannt.
    In einiger Entfernung fiel dem Pastor ein junges Mädchen auf. Vielleicht war es auch eine junge Frau, so genau konnte er das nicht erkennen. Ihre Kleidung irritierte ihn. War das nicht eine Uniform, die sie trug? Polizisten trugen so etwas, vielleicht auch die zahlreicher werdenden Schwarzen Sheriffs. Nein, dazu passte das Mädchen nicht. Heilsarmee, richtig, die könnte von der Heilsarmee sein. Die trugen Uniform und mussten viel Spott ertragen. Ihre Hymne »Schon wieder eine Seele vom Alkohol gerettet, schon wieder eine Seele vom Alkohol befreit« hatte wenige überzeugt, aber Eingang in die ewige Hitparade der Karnevalslieder gefunden. Die Frau trug ein Schild, wie bei einer Demonstration. Eine Aufschrift konnte er nicht erkennen. Warum war sie allein? Die Heilsarmee trat doch nur als Gruppe auf, zielgerichtet in Gaststätten. Dort sangen sie und zogen mit einer Sammelbüchse von Tisch zu Tisch. Sauerbier kannte das aus Filmen, in Lindener Kneipen hatte er so etwas nie erlebt. Er verlor die Frau aus den Augen.
    Zeit für einen Frühschoppen, beschloss Sauerbier. Er ging den kurzen Weg hinüber zur Turmgaststätte. Das Wetter lud zu einem Besuch im Biergarten ein.
    Die Hannoveraner hatten die strategische Bedeutung dieses höchsten Punktes auf dem Lindener Berges frühzeitig erkannt und hier schon 1392 einen Wehrturm errichtet. Im Dreißigjährigen Krieg erreichte Tilly mit seinen Truppen diese Stelle, um Hannover zu erobern. Das gelang nicht: Die Dänen und ihre Verbündeten waren schon da. Nach dem Krieg war wie üblich Abrüstung angesagt: Der Turm wurde zur Mühle. Deren Produktion ist längst Geschichte, dafür gab es einen folgerichtigen Übergang: von der Gerste zum Bier. Der Biergarten lockte im Sommer Tausende an. Pastor Sauerbier war häufig dabei. Sein Credo: »Hier ist Alkoholkonsum ein kulturhistorischer Akt.«
    Das kühle Gerstengebräu brachte auch heute die Gedanken des Pastors schnell zum Schwingen. Er nahm Zettel und Kugelschreiber aus der Innentasche seines Jacketts und malte Rubriken, um die verschiedenen Gruppen von Friedhofsinteressenten zu bezeichnen. Eine Rangfolge würde er später festlegen.
    Da waren also die schwarzen Witwen, die unentwegt mit Gießkanne und Miniharke am Wirken waren. Dann kamen die Satanisten, wenn es die denn auf dem Bergfriedhof überhaupt gab. Aktiv blieben auf jeden Fall diejenigen Lindener, die den Friedhof in seiner ursprünglichen Funktion erhalten wollten. Uneingeschränkt bekannte sich Sauerbier zu dieser Gruppe. Ihre Gegenspieler waren die Parkverfechter, für die jede Friedhofsfunktion ausschließlich historische Bedeutung hatte. Sie wollten den Friedhof als Naherholungsgelände.
    Man sollte auch wirtschaftliche Interessen nicht unterschätzen, dachte Sauerbier. Also Gruppe 5: Das Beerdigungsinstitut Himmelfahrt, dessen Einsatz für die Erhaltung des Friedhofs durchaus ehrenwert, aber nicht immer ganz uneigennützig war.
    Vier Gruppen waren uneingeschränkt für den Erhalt des Friedhofs und seine Wiedereröffnung für Bestattungen.

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