Totenruhe
noch zweimal im Jahr zu mähen. Zum Erholungspark wurde der Friedhof dadurch nicht. Die Tendenz geht eher in Richtung Urwald, dachte Lindemann, als er mal wieder mit Monika spazieren ging und ihnen dabei die einsame Bank in diesem Friedhofsteil einfiel. Da konnte man ungestört in der Sonne sitzen und die Natur beobachten. Wer sich ganz ruhig verhielt, sah nicht nur Vögel, die bis auf wenige Meter heranflogen, sondern auch besonders scheue Eichhörnchen, die sich allerdings selbst mit artgerechtem Futter nicht anlocken ließen. Monika schaute über die Wiesen und dachte daran, dass da noch vor einer Generation Grab an Grab gereiht war. »Wie viele Tote hier wohl beerdigt worden sind?« Lindemann wusste es nicht, konnte sich auch keine Zahl vorstellen. »Der Friedhof war hundert Jahre in Betrieb«, antwortete er ausweichend. Monika kicherte. »Nennt man das ›Betrieb‹?«
Lindemann informierte seine Partnerin über aktuelles Amtsdeutsch: »Heute heißt es: Der Friedhof wird nicht mehr belegt.« Monika war nicht überrascht. »Belegen kann man das schon nennen, meinst du nicht?«
»Bei Beisetzungen im Sarg ist das sehr bildhaft. Heute sind die meisten Grabstätten Urnengräber.«
Monika konzentrierte sich auf einen neuen Gedanken. »Das sind doch alles Schicksale. Woran sind die wohl gestorben?«
Lindemann dachte nach. Andere Zeiten, andere Todesarten. Abgesehen von Altersschwäche, die früher eher selten vorkam.
»Die sind an Lungenentzündung gestorben, an Blutvergiftung, aber auch schon an Krebs und Schlaganfall.« »Und Krieg«, ergänzte Monika.
»Heute sterben die Menschen auch nicht immer eines natürlichen Todes«, wandte Monika ein. »Ich habe über eine Untersuchung der Universität Münster gelesen. Die sagen, auf einen entdeckten Mord käme ein unentdeckter.«
»Tatsächlich?« Lindemann staunte. »Wie kommt das?«
»Weil es bei uns keine Leichenschau gibt, die in anderen Ländern üblich und vorgeschrieben ist. Bei uns kann jeder Arzt einen Totenschein ausstellen.« Lindemann nickte. »Egal, wie beschränkt oder blind er ist.«
»Ja, oder wie kriminell. Soll auch vorkommen.«
»Wo war der Lindener Friedhof eigentlich vorher gewesen, wenn dieser erst 1862 angelegt wurde? Vorher wurde doch auch gestorben, oder?« Monika schaute erwartungsvoll auf Lindemann.
»Der war unten an der Martinskirche. Du kannst das noch an dem Egestorff-Grab erkennen, das steht für den Lindener Industriebegründer und seine Nachfahren. Da gab es einen Text, den mussten wir in der Schule auswendig lernen. Ich kann ihn immer noch. Was wichtig ist, vergisst man allzuoft und Unwichtiges bleibt ein ganzes Leben lang im Hirn kleben. Willst du die Hymne auf den Johann Egestorff hören?«
»Natürlich will ich. Also Schüler Lindemann, sag das Gedicht auf.«
»Der hat die Bürgerkrone sich errungen, der treu gewuchert mit der Lebenszeit, sich aus der großen Nacht emporgeschwungen, und auch der Mitwelt Kraft und Fleiß geweiht, der fremdes Glück als eigenes betrachtet, Verirrte auf den rechten Pfad geführt, von Freunden wie von Fremden gleich geachtet, so als ein Muster seinen Kreis geziert. Ein solcher war’s, den wir hier weich gebettet, der selber sich erschuf den Ehrenplatz, aus Zeitensturm hat er sein Schiff gerettet und mehr geborgen als den Ehrenschatz. Als Christ und Mann kann er die Antwort wagen, wenn ihn der Herr nach seinen Taten fragt. Drum dürfen wir, wenn auch in Tränen, sagen: Wir haben unsern Stolz ins Grab gelegt.« »Setzen, zwei plus.« Monika war eben Lehrerin. Lindemann lachte.
»Also: Bis 1943 war da an der Martinskirche ein richtiges Mausoleum, wurde aber beim Luftangriff zerstört, genau wie die Kirche. Unter dem Grabmal ist noch eine Gruft mit uralten Särgen. Sieht ganz schön makaber aus.«
»Warst du da etwa mal drin?« Monika schaute entsetzt.
»Nein, da war mal eine Öffnung und durch die hat ein engagierter Lindener Bürger und Geschichtsforscher Fotos gemacht. Die waren dann im Internet zu sehen. Das Verlies ist aber längst wieder verschlossen.«
»Und der Friedhof war an der Kirche?«
»Ja, das war früher üblich. Wie du weißt, nannte man ihn in vielen Orten auch Kirchhof. Zuständig war in der Regel der Küster. Daher kommt der Name ›Küsters Kamp‹ volkstümlich für die letzte Ruhestätte. Geweihte Erde, natürlich nur für die Gläubigen der jeweiligen Kirche. Die anderen wurden jenseits der Kirchhofmauer verscharrt.« Lindemann schaute wohlwollend auf seine
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