Totenruhe
oder schräg. Also, da war der senkrechte Strich, aber der Querstrich war nicht gerade, wie bei unserem Kirchenkreuz. Der ging von links oben nach rechts unten. Also ein Schrägstrich.« Oma Kasten lächelte tief aus ihrem Inneren heraus und Stokelfranz verstand, dass sie es sehr ernst meinte.
»Ich werde es mir nachher anschauen«, meinte er freundlich. Oma Kasten schüttelte den Kopf. »Das können Sie nicht mehr. Ich habe es beseitigt, weil es doch nur ein Zeichen zwischen Gott und mir war. Das geht doch sonst niemand etwas an. Allerdings hat da jetzt jemand so ein neumodisches Kreuz hingemalt, da ist der Querbalken unten. Frau Sonntag vom Seniorenkreis meint, das sei von den Satanisten.«
»Was es alles gibt«, staunte Stokelfranz.
»Ja, man kommt da gar nicht mehr mit. Wissen Sie, dass man die Verstorbenen jetzt schon in die Luft schießt«, suchte Oma Kasten dem Gespräch eine Wendung zu geben.
»Ins Weltall«, merkte Stokelfranz an.
»Ganz so weit nicht, das ist noch zu teuer. Viele fahren mit der Asche ihrer Verstorbenen ins tschechische Komotov, da gibt es Billigbeerdigungen. Das haben sie im Fernsehen gebracht. Noch billiger wird es, wenn die Asche mit einer Silvesterrakete in die Luft geschossen und verstreut wird. Das ist in Komotov erlaubt. Hier bei uns geht das nicht. Ehrlich gesagt, ich möchte auch nicht mit einer Rakete verstreut werden. Was sind denn das für Sitten?!«
Oma Kasten verabschiedete sich freundlich und Stokelfranz konnte die Bierflasche endlich ihrem ureigensten Zweck zuführen. In die Luft schießen und verstreuen, dachte er, die Leute kommen auf die tollsten Ideen, wenn es um Geld geht. Als die Flasche leer war, blieb nichts anderes, als mit der eigentlichen Arbeit zu beginnen. Wo anfangen? Oben beim Engel, beschloss er. Und da entdeckte er es. Der Engel war auf der Rückseite von dichtem Buschwerk bewachsen. Stokelfranz zwängte sich hindurch, um die Halterung zu prüfen. Unübersehbar war auf der Rückseite des Engels ein Kreuz, wie es Oma Kasten beschrieben hatte. Es war mit wasserfester Farbe gemalt und der Querbalken verlief eindeutig von links oben nach rechts unten.
9.
Die Industrie hatte Linden einstmals groß gemacht. Egestorff und sein Lokomotivenbau produzierten schon mit modernster Fließbandarbeit, als der angebliche Erfinder dieser technischen Revolution, Henry Ford, noch im Sandkasten spielte. Doch das war Geschichte, die Industrie verschwand bis auf wenige mittlere Einheiten. Eine davon gehörte dem Unternehmer Eduard Cordes, der nur ein kleines Stück seines großen Familienerbes erhalten konnte. Im Kiez wurde gemunkelt, das sei vor allem dem schwerreichen Werendt zu verdanken, einem umtriebigen Lindener, der mit einer gewaltigen Kapitaleinlage stiller Gesellschafter der Firma sei. Man produzierte Straßenbautechnik einer ganz speziellen Art und hatte dafür als Alleinabnehmer die Bundeswehr. Cordes lieferte direkt an Bundeswehr-Stützpunkte in Afghanistan. Mehr war über Produktion und Absatz nicht zu erfahren, alles lief auf Weisung des Auftraggebers unter »streng geheim«, und das Betreten der Werkhallen war für Unbefugte unmöglich. Alle Beschäftigten hatten einen eindeutigen Revers unterschreiben müssen und man munkelte, dass sie sogar in ihrer Freizeit einer systematischen Überwachung unterlagen. Arbeiter und Angestellte trugen es mit Fassung und hielten dicht, denn Cordes zahlte deutlich über Tarif und garantierte die Sicherheit seiner Arbeitsplätze. Das wiederum erfreute die zuständige Gewerkschaft, die dafür bei ihren seltenen Streikaktionen Cordes unbehelligt ließ.
Trotzdem hatte Cordes eine Schlagzeile im jüngsten Lindenkurier erhalten, der als kostenloses Anzeigenblatt wegen seiner unorthodoxen Berichterstattung hohes Ansehen genoss. Es ging um die Vergangenheit des Familienunternehmens, das immerhin schon vor 1945 bestanden hatte und damit zwangsläufig im Geflecht von Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit eine Rolle spielte. Eduard Cordes war Nazi und Wehrwirtschaftsführer gewesen. Man warf ihm vor, einen Aufnahmeantrag in die SS gestellt zu haben. Die hatte ihn aber nicht genommen, weil er nur ein Bein hatte. Das andere war im 1. Weltkrieg vor Verdun geblieben. Eduard Cordes ging nach 1945 auf nähere Nachfragen nicht ein und erklärte lakonisch, nie der SS angehört zu haben. Das konnte nicht widerlegt werden. Parteimitglied war er schon, in seiner Position wäre das gar nicht zu vermeiden gewesen. Warum die Aufnahme in
Weitere Kostenlose Bücher