Totenruhe
die Hitler-Partei aber schon 1929 erfolgte, blieb unkommentiert. Die politische Restauration der Nachkriegsjahre deckte auch über Cordes Vergangenheit den Mantel des Schweigens und die Menschen hatten damals ohnehin andere Sorgen gehabt.
Das alles wärmte der Lindenkurier wieder auf und brachte dann eine anonyme Zeugenaussage, die der Geschichte eine neue Wendung gab. Am 10. April 1945 hatten Amerikaner und Briten Linden besetzt und genau an diesem Tage will der Zeuge beobachtet haben, wie Eduard Cordes auf dem Bergfriedhof einen stattlichen Metallbehälter eigenhändig vergrub. Darin hätten sich der Familienschmuck und mehrere Goldbarren befunden, die Cordes vor dem Zugriff der Alliierten sicherstellen wollte. Der Autor entmutigte zugleich potentielle Schatzgräber, die annehmen mochten, das Vermögen könne sich noch dort befinden. Gleichzeitig warf er die Frage auf, wo der Kriegsgewinn der Familie Cordes verblieben war. Eduard Cordes war 1965 verstorben; blieb nur sein Sohn Ewald, der längst »der Alte« genannt wurde. Der stritt jegliche Kenntnis ab und verwies die Zeugenaussage in den Bereich der Legende. Ja, sie sei frei erfunden, diesen Zeugen habe es nie gegeben. Doch, konterte der Autor des Lindenkurier , den habe es schon gegeben, und seine Aussage sei niedergeschrieben. Der Zeuge habe sogar einen Namen, er heiße Karl Preul.
10.
Sauerbier besuchte häufig und gern das Seniorendomizil Ihmestrand. Außer dem alten Lindemann lebten zwei weitere Bewohner in der Einrichtung, die sich über seine Besuche freuten. Da war die ehemalige Drogistin Emmy Kahlweit, die zu Sauerbiers früherer Gemeinde gehört hatte und der Maurermeister Benno Schütte, mit dem er viele Jahre in der Kirchen-Synode saß. Der hatte an diesem Tag bereits Besuch.
»Oh, Herr Pastor, welche Freude. Robert, dies hier ist er, mein Pastor. Darf ich vorstellen: mein Schwiegersohn Robert Humdorf. Er ist Journalist.« Schütte war zweifellos stolz auf seinen Schwiegersohn und mehr noch auf dessen Beruf.
Sauerbier taxierte den Mann auf annähernd 60 Lebensjahre. Konnte hinkommen, immerhin war Schütte bereits 85.
Sauerbier fand schnell heraus, dass es sich bei Humdorf um einen interessanten Typ handelte. Außerdem hatte der durchblicken lassen, dass er an einem großen Thema arbeite, das auch mit Karl Preul und dem Bergfriedhof zu tun habe, Karl Preul? Der Mann kannte offensichtlich Karl Preul ganz persönlich und nicht nur flüchtig. Sauerbier fieberte vor Erwartung. Ob man nicht anschließend noch ein Bier …? Vielleicht gleich gegenüber der Seniorenresidenz? Aber bitte gern. Der Pastor ahnte, dass er diesen Mann gebrauchen konnte. Die gemeinsame Verabschiedung von Benno Schütte glich einer Flucht und der Weg zur Schänke wurde schnurstracks eingeschlagen.
»Was treibt einen auswärtigen Journalisten ausgerechnet nach Linden?«
»Ach Gott, das ist eine Ewigkeit her. Als ich zum ersten Mal nach Linden kam, war ich noch ein hoffnungsvoller junger Reporter. So nannte mich jedenfalls mein Chefredakteur, ein in Ehren ergrauter alter Dortmunder Biertrinker, den außer einer Niederlage seiner schwarzgelben Borussia nichts erschüttern konnte. Ich sollte zum Thema Stadtsanierung recherchieren, und die stand in Linden damals ganz oben auf der Tagesordnung.«
Sauerbier nickte. »Mit der Sanierung haben wir Beispiele gesetzt. Natürlich nur, wenn man den Betonklotz Ihme-Zentrum nicht als Teil derselben betrachtet.
Nee, darum ging es nicht. In der Fannystraße fand ich phantastische alte Arbeiterhäuser aus der Zeit der Industrialisierung, eine dazugehörige urige, vollkommen verräucherte Kneipe und maulfaule Menschen, die erst mit ›Koks‹ in Stimmung und Redefluss kamen. Koks war in diesem Umfeld nun wahrlich kein Kürzel für Kokain.«
Sauerbier merkte interessiert auf. »Kenne ich gar nicht …«
»Das war ein Gläschen Rum-Verschnitt mit einem Stück Würfelzucker. Wie Sie wissen, waren die Menschen hier nicht gerade wohlhabend und so muss irgendwann einer auf die Idee gekommen sein, die alkoholische Wirkung von Rum durch Zucker zu erhöhen. Das machte den unvermeidlichen Rausch zumindest preisgünstiger. Seien Sie froh, dass Sie das nicht kennen gelernt haben. Vergleichbares habe ich zeitlebens nie wieder getrunken. Selbst zivilisierter Grog ist mir seither ein Gräuel.«
»Die Fannystraße gibt es schon lange nicht mehr«, setzte Sauerbier nach. »Sie wurde im Rahmen der Sanierung komplett abgerissen und durch moderne
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