Totenruhe
helle Betonbauten ersetzt, die nichts quartier-typisches mehr haben und genauso in Hamburg, Berlin oder Rio de Janeiro stehen könnten.«
Der Journalist nickte. »Sehe ich genau so. Für mich hatte das alles noch eine ganz persönliche Note. Mit der Fannystraße verschwand auch ein winziges Antiquariat, wo man in verstaubten Bücherstapeln herrlich stöbern konnte und nicht wenige Bücher noch in einer alten Frakturschrift gedruckt waren. In jeder freien Minute drückte ich mich in diesem Laden rum, kaum beachtet von einem dickleibigen Antiquar, der mit seiner Weste, Ärmelschonern und einer goldimitierten Uhrkette über dem Bauch an einem bücherüberladenen Küchentisch saß und mit unendlicher Geduld Kreuzworträtsel löste. Kannten Sie den Laden?«
Sauerbier überlegte krampfhaft. »Ja, da war so ein schäbiger Laden, aber ich war nie drin. Was war mit dem Antiquar?«
»Der Mann war sicher schon über 60, trug eine Nickelbrille, schaute aber beständig über die Gläser hinweg, egal, ob er seine Rätsel, einen Kunden oder seine Bücher betrachtete. Bibliophile Raritäten waren in diesem Antiquariat nicht zu erwarten und ich suchte eigentlich auch keine. Mir ging es um interessante und preisgünstige Lektüre. Ich verbrauchte sie so massenhaft, wie andere Leute Pommes rot-weiß. Nun waren Bücher schon damals nicht gerade billig und da ich jedes in aller Regel nur einmal las, waren Antiquariate meine Fundgruben.
Es muss ein Montag gewesen sein, als ich mehrere Stunden Leerlauf hatte, weil mich der Vertreter einer örtlichen Bürgerinitiative versetzte. Das Antiquariat in der Fannystraße dämpfte meinen Unmut und so fand ich schließlich das Buch eines Autoren, von dem ich noch nie gehört hatte. »Gestern war dein letzter Abend« hieß der Titel von einem Karl Preul. Schon der Anfang faszinierte mich, weckte die Neugier nach mehr. Sinngemäß ging das so, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht:
› Wenn sich der Tag zum Abend neigt, kommt eine innere Spannung in mir auf, die ich nicht erklären kann. Ich zähle die verbleibenden Stunden bis zum Zwang des Schlafengehens, das ich nicht liebe, vermeiden möchte, mich dennoch nicht entziehen will. Um ein Uhr noch ein frisches Bier auf den Tisch, ich trinke langsam, mit Genuss, rauche eine Sumatra-Zigarre dazu. Schließlich schlägt die Kirchturmuhr zweimal. Zwei Uhr, bin ich wirklich sehr müde oder habe ich am nahenden Morgen Verpflichtungen gegenüber einer fordernden Öffentlichkeit? ‹«
Sauerbier rümpfte die Nase. »Hört sich gar nicht so besonders an, mit Verlaub.« Der Journalist nickte verständnisvoll. »Nun, ja, das ist aber der Einstieg in eine Geschichte, wie man sie im Leben nur einmal erlebt. Aber es ist eine lange Geschichte.«
Des Pastors Interesse war geweckt. »Ich möchte die Geschichte hören, machen Sie mir die Freude. Sie sind ein ausgezeichneter Erzähler, man merkt Ihnen den lebenslangen Umgang mit Sprache an.«
Der Pastor bestellte mit großer Geste eine Lage Rezepte, wie die Kombination von Bier und Korn hier genannt wurde.
»Auf Ihre Verantwortung. Also gut. Bedenken Sie, dass es viele Jahre her ist.«
11.
Der Journalist schaute prüfend in sein Bierglas, als könne er das Vergangene aus dem Schaum ablesen.
»Irgendwie erinnerte mich der Text an eine moderne Version von Edgar Allan Poe. Oder war das nur die nächtliche Kirchturmuhr, die Poe mehr als einmal bemühte? Vermutlich. Ich verwarf den Gedanken und fragte mich unwillig, wieso Texte immer eine literarische Vaterschaft beanspruchen sollten. Dies war eben Karl Preul und der hatte womöglich Honig aus einer Quelle gesogen, an der sich auch Poe und andere zu ihrer jeweiligen Zeit labten.
»1,-« war mit Bleistift hinten in das Buch geschrieben. Da gab es nichts zu überlegen und ich schob dem Ladenbesitzer das Buch mit einem Markstück auf seine Kreuzworträtsel. Er schaute vorwurfsvoll über die Brille und ich entschuldigte mich für den Eingriff in seinen Denksport. Unwillig schüttelte der Mann den Kopf und zeigte mit seinem dicken Daumen auf den Buchtitel. »Eigentlich ist das Buch verboten«, brummte er schließlich. Ein Buch ist verboten? Ich stutzte. Schließlich ging es hier ganz offensichtlich nicht um harte Pornografie. »Ja, wissen Sie«, setzte er geheimnisvoll fort, »es soll sich um ein Plagiat handeln, obwohl ich das nicht nachvollziehen kann. Texte von Thomas Mann sollen da abgekupfert sein. Die müssen aber sehr unbekannt sein, denn in der
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