Totenruhe
war, konnte der Besitzer nach größter Wahrscheinlichkeit nicht fern gewesen sein. Humdorf am Friedensengel? Schon möglich. Vielleicht gab es eine harmlose Erklärung für dessen etwas rabiates Kunstinteresse. Aber Humdorf bei der schwarzen Messe? Im Umfeld von Oma Kasten war er jedenfalls nicht und er tauchte an dem Abend auch nicht auf. Humdorf ein Satansjünger? Der Gedanke war mehr als gewöhnungsbedürftig. Vielleicht verfolgte der Mann seine eigene Mission im Umfeld der Kapelle. Lindemann fiel ein, dass Karl Preul in eben diesem Umfeld gestorben war und die Personen Humdorf und Preul ergaben tot oder lebendig schon einen Zusammenhang.
Sauerbier hörte sich Lindemanns Bericht schweigend an. Kritik an dem von ihm geschätzten Robert Humdorf schmerzte ihn. Im Zweifel muss man an allem zweifeln, beschloss der Gottesmann schließlich.
»Man kann in niemanden hineinschauen«, beklagte der Pastor. »Verdächtig ist er schon«, beharrte Lindemann. »Im Zweifel für den Angeklagten«, plädierte der Pastor. Lindemann schaute ihm in die Augen. »Haben Sie Zweifel? Der Mann spielt Sozialamt und ist mit seinem Fahrzeug immer genau da, wo er nicht unbedingt sein müsste.«
»Nun ja, Zweifel sind angebracht. Wir wissen einfach zu wenig über Humdorf. Unser Bild von ihm hat er selbst gemalt.«
»Jawohl, Herr Pastor, das ist der Anfang des kritischen Denkens.«
»Dass ich mir das von einem Beamten bescheinigen lassen muss«, stöhnte der.
Lindemann freute sich, diesmal nicht von der Argumentationskraft des Pastors untergepflügt worden zu sein.
»Übrigens, was ist eigentlich mit dem Kreuz? Das mit dem schiefen Querbalken?«
Der Pastor schlug sich vor die Stirn. »Habe ich ganz vergessen. Aber das klären wir sofort. Da ist ein alter Kollege vom Landeskirchenamt, der beschäftigt sich mit germanischer Mythologie. Den rufe ich eben an.«
»Zu dieser Zeit?« Lindemann schaute auf seine Uhr. Es war halb Zehn. »Der freut sich, wenn es Interesse an seinem Thema gibt. Das kommt nicht sehr häufig vor, hat er mir anvertraut.«
Sauerbier drückte eine Nummer in sein Handy. Lindemann nutzte die Gelegenheit, sich auf dem 00 zu erleichtern. Als er zurückkam, saß der Pastor vor einem Zettel und notierte eifrig. Sein Telefongespräch schien erfolgreich. »Ganz sicher? Das ist außerordentlich interessant. Danke für die Hilfe. Du warst doch noch nicht im Bett? Das tröstet mich. Gehab dich wohl.«
Sauerbier drückte die rote Taste und schaute Lindemann triumphierend an. »Also das Zeichen nennt sich Nauthiz und stand bei den Germanen für den Buchstaben N. Es hatte aber eine weit größere Wichtigkeit. Die Grundbedeutung von Nauthiz ist Not, schicksalhafter Zwang. Dann gibt es aber noch viele andere Bezüge.«
Lindemann winkte ab. »Bitte keine wissenschaftliche Abhandlung. Was begeistert Sie so an den Informationen Ihres Kollegen?«
»Nicht so ungeduldig, junger Mann. Also Not, ausdrücklich erwähnt als Not der Fronmagd. Und dann kommt es. Der Kollege hat es wörtlich aus einem Fachbuch zitiert: ›Not schafft schwere Lage; die Nackten erfrieren im Froste.‹ Was sagen Sie nun?«
»Preul ist im Frost erfroren. Er war aber nicht nackt.«
Sauerbier wurde unwillig. »Das ist symbolisch gemeint. Nackt steht für arm, hilflos, einsam.« Lindemann schob nachdenklich einen Bierdeckel über den gescheuerten Tisch. »Wo bleibt die Logik? Karl Preul erfriert im Frost. Irgendjemand scheint das bemerkt zu haben. Was tut der? Der informiert nicht die Polizei oder sonst eine Behörde, nein, der malt eine Rune quer über den Friedhof. Zugegeben, kürzer als mit diesem merkwürdigen Kreuz …«
»Nauthiz«, unterbrach Sauerbier, sichtlich stolz auf sein neu gewonnenes Wissen.
»… als mit der Nauthiz kann man das nicht beschreiben. Trotzdem: Kommt hier die Logik nicht zu kurz?«
Sauerbier geriet in Bewegung. »Logik? Denken Sie doch mal an die Notizen von Preul aus dem Jahre 1945. Die Anwürfe gegen Cordes. Dieser ganze Nazidreck plus germanische Runen plus im Frost erfroren und das alles auf dem Bergfriedhof – ergibt das keine logische Kette?«
Lindemann war unschlüssig. » Nennen Sie noch mal den Satz …«
»Not schafft schwere Lage; die Nackten erfrieren im Froste«, soufflierte Sauerbier.
»Gut«. Lindemann griff den Faden auf. »Da hat jemand eine Information verbreitet, die nach der Schneeschmelze allgemein bekannt war. Was soll das?«
Sauerbiers Miene geriet in Bewegung. »Und wenn es gar keine Information war,
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