Totenruhe
Welt, gegen Mitternacht die einsame Straße zum Friedhof zu benutzen. Lindemann beschleunigte seine Schritte. Als er nur noch fünf Meter entfernt war, blieb die Frau stehen und drehte sich um. Es war Simone Witte.
»Herr Lindemann, da bin ich aber froh, Sie zu sehen und nicht einen der Satansjünger.«
»Sie machen nicht gerade den Eindruck, als hätten Sie vor denen Angst.«
Simone Witte lachte. »Warum sollte ich? Ich bin unbewaffnet und nicht vorbestraft. Außerdem habe ich einen Presseausweis. Und wenn hier im Internet eine spannende Veranstaltung angekündigt wird, ist es ein Stück Pressefreiheit, darüber berichten zu dürfen.«
»Manche machen aber auch Mitternachtsveranstaltungen, weil sie das Licht des Tages scheuen.« »Und das steht dann vorher im Internet?«
»Eigentlich nicht.« Lindemann wollte die junge Frau nicht beunruhigen. Manchmal stellte der eine etwas ins Internet, was der andere durchaus geheim halten wollte. Aber im Internet-Zeitalter gab es wohl nichts mehr, was geheim blieb. Vermutlich konnte man dort auch die Schuhgröße des Bundespräsidenten in Erfahrung bringen. »Und Sie? Sie habe ich beim Nachtspaziergang erwischt, der Sie immer um diese Zeit zum Berg führt.«
»Natürlich nicht. Pastor Sauerbier und ich wollten auch mal schauen, was Satanismus in Linden ist. Allerdings hatten wir doch eher eine geheime Überwachung vor.«
Sie waren inzwischen vor dem Friedhof angekommen und stießen gleich hinter dem Haupteingang auf eine Schar von mindestens einem Dutzend schwarzer Gestalten. Schwarze Mäntel, schwarze Hüte, dazu Stock oder Stockschirm. »Ja, Herr Lindemann, Sie auch?« Lindemann zuckte zusammen, urplötzlich jeglicher Tarnung beraubt. Von wegen geheime Überwachung. Er kannte die Stimme, auch ohne die dazugehörende Dame zu sehen. Es war Oma Kasten aus dem ersten Stock. Oma Kasten bei den Satanisten? Oma Kasten, die mit Gott im direkten Briefwechsel stand? »Und sogar der Pastor Sauerbier«, Oma Kastens Stimme wurde schrill. Ratlos gesellte sich der Pastor zu Lindemann. »Was ist denn das für eine Massenkundgebung schwarzer Witwen, Lindemann? Das ist doch wohl nicht ihr Werk?« Mehr als zehn ältere Damen begannen mit einem gemeinsamen Marsch in Richtung Kapelle. Simone Witte hatte sich eingereiht und sprach unbefangen mit der offensichtlichen Anführerin.
Sauerbier zog Lindemann am Arm. »Damit hat sich die Sache wohl erledigt.« Lindemann war ratlos. »Was wollen die Alten um diese Zeit auf dem Friedhof?« Sauerbier schlug dem Freund auf die Schulter. »Den Satan austreiben, was denn sonst. Schauen Sie, Lindemann. Das sind alles Damen, die mit Kirche und Glauben noch eng verbunden sind. Die wollen keine Satanisten in ihrem Umfeld zulassen. Ich bin mir sicher, dass sich die Gottesleugner vor dieser Massendemonstration längst verzogen haben. Über die Mauer und weg auf die Badenstedter Straße.« Lindemann schüttelte den Kopf. »Was tun wir?« »Was Oma Kasten jetzt auch tut. So falsch kann das nicht sein.« Die beiden Männer gingen gemessenen Schrittes den Weg zur Kapelle.
Das kleine Gotteshaus war hell erleuchtet, die schmiedeeisernen Torflügel weit geöffnet. Die Damen hatten sich im Raum verteilt und begannen einen stimmstarken Gesang. »Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen.« Sauerbier stieg mit seiner Bassstimme hörbar ein und die Damen dankten ihm mit einem glücklichen Blick.
Vor dem Altar stand ein Pastor im Talar. Die Männer kannten ihn recht gut. Es war der langjährige Alt-Pastor der Bethlehem-Gemeinde im Lindener Norden, Jochen Günther. »Der einzige Pastor, der auch Lindener Kulturpreisträger ist«, raunte Sauerbier seinem Begleiter zu. »Und Sie?«, fragte der. »Nein, nicht mal ich. Noch nicht«.
Als der Gesang beendet war, ergriff Pastor Günther das Wort.
»Liebe nächtliche Gemeinde, das Internet und das miteinander Reden: Das hat uns hierher gebracht. Es ist ein Ort, der früher ein Ort des Wortes Gottes war. Heute ist es nicht mehr so. Aber diese Kapelle muss auch kein Ort des Satans sein. Und dafür sind wir hier, zu bezeugen, dass Gottes Wort auch in nächtlicher Stunde gilt. Das Licht Christi drängt nach außen in die Höhen und in die Tiefen der Dunkelheit. Das Licht Christi ist befreiend, nicht beklemmend, geheimnisvoll manchmal schon, aber drängt doch hin zur Liebe und deren Geheimnissen. So wollen wir heute auch die angezündeten Kerzen und ihr Licht im Anschluss mit uns nehmen: Ein kleines Licht, das für
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